Wahlen in Thüringen: „Probleme fallen mir nicht ein“

In einem kleinen Dorf an der hessischen Grenze ist die Zustimmung für die AfD für Thüringer Verhältnisse gering. Was kann man von Wahlhausen lernen?

Horst Zbierski, ehemaliger Bürgermeister von Wahlhausen

Horst Zbierski, ehemaliger Bürgermeister von Wahlhausen Foto: Dirk Opitz

Wenn man Horst Zbierski fragt, welche Probleme es in seinem Heimatort gibt, muss er lange überlegen. Zbierski ist ein drahtiger Mann mit grauem Haar. 77 Jahre ist er alt, 1947 ist er in dem kleinen Thüringer Ort Wahlhausen an der Grenze zu Hessen geboren, sein ganzes Leben hat er dort verbracht.

Er hat erlebt, wie ab den 1960er Jahren mitten durch Wahlhausen Zäune und Grenzanlagen gezogen wurden und den Ort einpferchten. Als diese Zäune abgerissen wurden, wurde Horst Zbierski Bürgermeister für die SPD. Das war 1990, er blieb es bis 2003. Zwei Bücher hat er über die Gemeinde geschrieben. Wenn jemand Wahlhausen kennt, dann ist es Horst Zbierski.

Eine Illustration. Mehrere Kreise sind mit Strichen miteinander verbunden. Die Kreise haben unterschiedliche größen und Farben. Sie sind rot, gelb, grün und Blau.

Dieser Text ist Teil unserer Berichterstattung zu den Wahlen 2024 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Die taz zeigt, was hier in diesem Jahr auf dem Spiel steht.

Aber bei der Frage nach den Problemen überlegt er. Er zählt dann auf, was alles gut läuft: Der neue Radweg locke Touristen an. Die Kirche sei dank einer Bürgerinitiative wieder lebendig. Klar, der Sportverein habe schließen müssen – zu wenig Mitglieder. Aber Fußball werde ja trotzdem gespielt. „Also Probleme“, sagt Zbierski schließlich. „Nee, die fallen mir wirklich nicht ein“.

Das ist ein bemerkenswerter Satz in einer Zeit, in der sonst viel gemeckert wird. In der „die da oben“ gern für alles Schlechte verantwortlich gemacht werden.

In diesem Jahr geht es in Ostdeutschland politisch um so viel wie selten zuvor. In allen Ländern stehen Kommunal- und Europawahlen an, in Thüringen, Sachsen und Brandenburg zudem Landtagswahlen. Als erstes wählt Thüringen am 26. Mai kommunal. Damit könnte ein Durchmarsch der AfD beginnen: erst in die Rathäuser und Landratsämter, und im September hin zu einer Mehrheit im Landtag.

Über die Frage, warum Menschen die AfD wählen, gibt es viele Theorien. Mal geht es um den Bus, der nicht mehr fährt und dazu führt, dass Menschen sich abgehängt fühlen. Mal heißt es, dass jene besonders anfällig für die AfD sind, die Angst haben, abzurutschen.

Zwei ähnliche Gemeinden, zwei unterschiedliche Wahlergebnisse

Zusammen mit dem Institut für Rechtsextremismusforschung der Uni Tübingen will die taz untersuchen, warum in manchen Gemeinden besonders viele und in anderen wenige Stimmen an die AfD gehen. Die Soziologen haben berechnet, wie die Wahlergebnisse zusammenhängen mit der Einwohnerstruktur von Gemeinden, dem Steueraufkommen, der Entfernung zum nächsten Arzt.

Horst Zbierski, von 1990 bis 2013 für die SPD Bürgermeister von Wahlhausen

„Ossi, Wessi, das gibt’s für uns nicht“

Warum die Gemeinden? Sie sind die kleinste Einheit, zu der statistische Daten vorliegen. Wer die Wohngemeinden der Menschen untersucht, ist nah dran an deren Lebenswelt, schreiben die Wissenschaftler um Rolf Frankenberger in einer ersten Auswertung.

Die taz wird die Ergebnisse in den kommenden Monaten journalistisch aufarbeiten. Wir werden in Gemeinden fahren, die statistisch besonders auffallen. Wir wollen mit den Menschen sprechen und hören, ob wir das, was die Daten zeigen, vor Ort tatsächlich finden.

In Thüringen stechen in der Analyse zwei Gemeinden hervor, die sich auf den ersten Blick stark ähneln. Sie sind mit rund 300 Einwohnern gleich groß, ihre Bewohner gleich alt. In beiden ist die Verteilung von Männern und Frauen gleich, beide haben gleich wenig Arbeitslosigkeit. Beide sind ländlich, liegen am Rand von Thüringen. Was sie unterscheidet, ist ihre politische Ausrichtung. In der einen haben bei der letzten Bundestagswahl 14 Prozent die AfD gewählt. In der anderen 49 Prozent.

Wahlhausen ist die Gemeinde mit den 14 Prozent. Die mit den 49 heißt Oberstadt und liegt 130 Kilometer südöstlich, im Thüringer Wald. In diesem Text soll es vor allem um Wahlhausen gehen. Was kann der Rest des Bundeslands von diesem Ort lernen?

Horst Zbierski hat im Gemeindebüro Platz genommen. Es ist ein schmuckloser Raum mit einem langen Tisch. Neben ihm sitzt Steffen Großheim, er ist heute der parteilose Bürgermeister von Wahlhausen. Fragt man die beiden, woran es liegt, dass in ihrer Gemeinde so wenig AfD gewählt wird, weniger als im Rest von Thüringen und weniger als im Wahlkreis, der sie umgibt, dann zucken sie mit den Schultern.

Großheim hat auch seinen Gemeinderat gefragt. Dessen Mitgliedern sei das noch nicht einmal bewusst gewesen. „Es ist nicht so, dass wir ein Hort gegen die AfD sind“, sagt er. „Vielleicht sehen die Leute in Wahlhausen keinen Grund, die AfD zu wählen. Es geht uns gut hier.“

Orientierung Richtung Hessen

Wahlhausen liegt im Werratal. Der nächste Ort ist das hessische Bad Sooden-Allendorf, eine Kleinstadt, einen Kilometer entfernt. Dort hat Björn Höcke als Lehrer gearbeitet. Höckes Wohnort, Bornhagen, liegt nur wenige Kilometer entfernt. In Wahlhausens Nachbarort Fretterode wohnt mit Thorsten Heise einer der umtriebigsten Neonazis, vor fünf Jahren haben dort zwei Neonazis Journalisten angegriffen. Es ist nicht so, als sei die Bedrohung durch die AfD und andere Rechte weit weg.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Aber das Eichsfeld, in dem Wahlhausen liegt, wählt traditionell weniger AfD: Die Gegend ist eine CDU-Hochburg, katholisch, auch wenn Wahlhausen eine evangelische Enklave ist. Doch selbst für Eichsfelder Verhältnisse wählt Wahlhausen wenig AfD. Für den amtierenden Bürgermeister Steffen Großheim erklärt sich das auch durch die Nähe zum hessischen Bad Sooden-Allendorf. Die Kinder aus Wahlhausen gehen dort zur Schule und in den Sportverein. Dafür gehen Kinder aus Bad Sooden-Allendorf in Wahlhausen in den Kindergarten. Die Verbindungen in die Stadt sind eng, seit die Mauer weg ist.

Die verlief bis zum 18. November 1989 durch den Ortskern, direkt am Fluss entlang. Viele hier wollten so nicht leben und zogen weg. 1989 wohnten noch 198 Menschen in Wahlhausen, heute sind es 320. Nach dem Mauerfall orientierte sich der Ort schnell in Richtung Hessen, erzählt Horst Zbierski. Ein Freundeskreis mit der Nachbarstadt wurde gegründet, gemeinsam wurde Fasching gefeiert und Wanderungen geplant. Die Feuerwehren und Stadtverwaltungen kooperieren bis heute. „Ossi, Wessi, das gibt’s für uns nicht“, sagt Horst Zbierski.

Anti-Windkraft-Proteste treiben die Leute zur AfD

Nur, auch Oberstadt, der ähnliche Ort mit den drei mal so hohen AfD-Ergebnissen, liegt nah an einer ost-west-deutschen Landesgrenze, an der zu Bayern. Und trotzdem sind laut den Daten aus Tübingen in Oberstadt die wichtigen Wege länger: der nächste Arzt, die nächste Bahnstation – weiter weg als in Wahlhausen. Aber reicht das, um zu erklären, warum in Oberstadt jeder Zweite AfD wählt?

Es ist nicht leicht, mit den Leuten in Oberstadt ins Gespräch zu kommen. Egal wen man anruft, wem man Mails schreibt, dem Bürgermeister, der Bürgerinitiative, dem Kulturverein oder Mitgliedern des Gemeinderats, niemand will mit der taz sprechen.

Aber man ahnt, was die Menschen in Oberstadt bewegt. In der Nähe des Dorfes sollen Windräder gebaut werden, eine Bürgerinitiative wehrt sich. Die Vorsitzende bloggt darüber, Videos zeigen Demos vor Ort. Dort wird viel geschimpft über die rot-rot-grüne Landesregierung. Der Tenor ist immer ähnlich: Die Grünen machten die Landschaft kaputt mit ihrer Energiewende.

Eine AfD-Landtagsabgeordnete hat sich zur Wortführerin in diesem Kampf gemacht. Sie hat das Thema im Landtag eingebracht, in den sozialen Medien postet sie ihre Reden, mehrmals war sie in Oberstadt zur Bürgersprechstunde, zuletzt im April. Ihr Einsatz scheint hier zu verfangen. Und Oberstadt wäre nicht die einzige Gemeinde, in der Anti-Windkraft-Protest die Menschen in die Arme der AfD treibt.

Erosion der politischen Kultur

Die Frage, warum Menschen AfD wählen, beschäftigt auch den Soziologen Axel Salheiser. Er leitet das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena. Salheiser hat auch festgestellt, was die Statistiken der Uni Tübingen zeigen: Allein mit Gemeinde-Daten lässt sich der Erfolg der AfD nicht erklären.

Nach seiner Forschung ist die lokale politische Kultur ausschlaggebender. Wenn rassistische Aussagen alltäglich seien, wenn im Nachbarort regelmäßig Rechtsrockkonzerte stattfänden, wenn in der Gemeinde schon früher rechte Parteien gewählt wurden, dann, sagt Salheiser, nutzt das der AfD. In Süd­thüringen, wo auch Oberstadt liegt, würden Umfragen auf eine solche Erosion der politischen Kultur hinweisen, anders als im Eichsfeld.

In Wahlhausen zieht Horst Zbierski Luft durch die Zähne. Wie er auf die Landtagswahlen im September blickt? „Mit gemischten Gefühlen“, sagt er zögerlich. Zbierski ist aus der SPD ausgetreten, als die in Thüringen mit den Linken in eine Regierung gegangen ist. Den Linken nimmt er übel, dass sie sich nie wirklich vom Parteigeld der SED distanziert hätten. Sahra Wagenknecht traue er auch nicht, wegen ihrer Nähe zu Russland. Aber die AfD, sagt er, sei keine Alternative. „Die AfD bietet Stammtischparolen. Das verfängt hier im Ort nicht.“

Wahlhausen, könnte man sagen, war ein Wendegewinner. Mit den Fördergeldern für den Aufbau Ost wurde der Ort nach dem Mauerfall neu vermessen, die Grundstücke neu verteilt. Verloren habe dabei niemand, sagt Horst Zbierski. Als die Kirche zu verfallen drohte, sammelte Zbierski Spenden, daraus wurde eine Bürgerinitiative. Zbierski erzählt das stolz, während er den Schlüssel in die dicke Kirchentür steckt. Drinnen erinnern Fotos an das Engagement der Wahlhausener.

Neben der Kirche steht heute eine große Linde. Die Menschen in Wahlhausen haben sie gepflanzt, am 18. 11. 1990, ein Jahr, nachdem die Grenze aufging. Jedes Jahr am 18. November stoßen sie hier mit Leuten aus Bad Sooden-Allendorf auf den Mauerfall an.

Vielleicht ist es das, was Wahlhausen ausmacht: Eine aktive Zivilgesellschaft, die sich selbst nicht als links oder als Alternative zur AfD versteht. Die getragen ist vom Selbstverständnis, die Entwicklung ihres Ortes selbst in die Hand zu nehmen. Vielleicht macht auch die Grenzerfahrung die Wahlhausener skeptischer gegenüber einer Partei, die Deutschland am liebsten einmauern würde.

Wahlhausen geht es finanziell gut

Und, ganz banal: das Geld. Wahlhausen geht es gut. Mehrere lokale Betriebe spülen Geld in die Gemeindekasse. 160 Arbeitsplätze gibt es im Ort. Den Kindergarten betreibt die Gemeinde in Eigenregie. Die Häuser entlang der Hauptstraße sind wie poliert, Fachwerk, das sich an die Hügel des Eichsfelds schmiegt.

Auch Oberstadt glänzt vor schöner Kulisse. Aber die Gemeinde ist ärmer, das zeigen die Daten der Tübinger Soziologen. Wahlhausen und Oberstadt unterscheiden sich nicht nur in ihren Wahlergebnissen, sondern auch in ihren Steuereinnahmen pro Einwohner.

Der Sportplatz von Wahlhausen liegt am Rand der Gemeinde. Ein Mähroboter fährt über die Wiese, den hat der Hersteller gesponsert. „Seitdem freuen sich alle über den perfekten Rasen“, sagt Steffen Großheim und bleibt am Spielfeldrand stehen. Im Vereinsheim ist Baustelle, zwei neue Duschen und eine Heizung werden eingebaut. Auf dem Spielplatz nebenan heben Bauarbeiter gerade ein großes Trampolin in ein Loch. Die Kinder in Wahlhausen haben jetzt noch ein Spielgerät mehr.

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