Im linken Viertel von Athen: Der Ort für alle Menschen

Im linken Athener Studentenviertel Exarchia werden Immigranten willkommen geheißen statt festgenommen. Ein Streifzug durch Athens Stadtteil der gelebten Solidarität.

Das Athener Studentenviertel Exarchia gilt seit jeher als bunter Stadtteil in dem vor allem Intellektuelle, Studenten, Künstler, Alternative und Ausländer leben. Bild: imago / Anreas Neumeier

ATHEN taz | An diesem Tag wird in Athen „aufgeräumt“. Ein Dutzend Polizeibusse umzingelt den Omoniaplatz im Stadtzentrum, um Hunderte von Immigranten festzunehmen, die dort als ambulante Händler arbeiten oder in den umliegenden, teilweise leer stehenden Apartmentblocks leben. In Bussen werden sie auf die Polizeiwache verfrachtet, wo man ihre Papiere überprüfen wird.

Seit Kurzem geht die griechische Polizei hart gegen illegale Immigranten vor. Einen Kilometer Luftlinie entfernt, im angrenzenden Stadtteil Exarchia, hat sich fast zeitgleich eine Menschentraube aus Pakistanern, Indern, Algeriern und Senegalesen vor einem Haus gebildet, das mit Politplakaten und antirassistischen Bannern zugekleistert ist.

Einige verschwinden im Gebäude mit dem Schild, das die Inschrift „Steki Metanaston“ („Einwanderer-Stammplatz“) trägt, andere unterhalten sich angeregt an den Tischen davor. Hier in Exarchia, Athens Linkenviertel, fühlen sich die Einwanderer sicher und willkommen.

Die linken Ideale

Intellektuelle, Künstler, Studenten, Ärzte, Alternative, Anarchos, aber auch Ausländer und viele Familien leben in diesem Viertel. Unrenovierte Häuser mit neoklassizistischen Fassaden stehen dicht an dicht neben schmucklosen 60er-Jahre-Bauten, fast kein Haus ist frei von Graffiti. Üppige Grünpflanzen ranken von den Balkonen.

Neben zahlreichen Buchläden gibt es Schreibwarengeschäfte, Copyshops, Plattenläden und Bars. Exarchia grenzt im Süden an das Athener Stadtzentrum, im Norden an den schönen grünen Strefi-Hügel, und in seinem Herzen liegt die geschäftige Plateia des Viertels mit Cafés, Parkbänken, Freiluftkino und Bars. Das Steki Metanaston befindet sich direkt ums Eck.

Laufsteg für Linke, Liberale, Arme und Spinner: Straßenansicht in Exarchia. Bild: Elena Beis

Dort schreibt Kostas Argaliotis, Gründungsmitglied des Steki, einem Iraker eine Adresse auf. Während die griechische Polizei in Athen Jagd auf Illegale macht und Neonazis Einwanderer verprügeln, werden in Exarchia Immigranten nach Kräften unterstützt: Hier bekommen sie Hilfe bei ihren Aufenthaltsanträgen, ehrenamtlichen Rechtsbeistand, wenn Abschiebung droht, Griechischunterricht und Räume, in denen sie sich austauschen können.

Das Steki lebt von den finanziellen Zuwendungen seiner Mitglieder und deren ehrenamtlicher Arbeit. „Wir machen das, weil wir nach linken Idealen leben wollen“, sagt Kostas, „und die Solidarität mit Einwanderern, Arbeitern, politischen und sozialen Randgruppen, überhaupt Menschen in Not gehört dazu.“

Linke Ideale und politischer Aktionismus haben in Exarchia Tradition. Die Technische Universität und viele Institute der Athener Universität befinden sich hier, und schon im 20. Jahrhundert war es ein Viertel vor allem für Studenten und Intellektuelle. Die ersten Studentenproteste in Exarchia fanden bereits 1901 statt – und führten zum Rücktritt des Erzbischofs und der Regierung.

1944 verschanzte sich hier die kommunistische griechische Befreiungsarmee und lieferte sich Gefechte mit den konservativ-autoritären Kräften des Landes. Berühmt wurde Exarchia aber 1973, als die von hier ausgehenden Studentenproteste gegen die griechische Militärdiktatur zu deren Sturz führten. Nach dem Ende der Diktatur zogen viele linke Organisationen und Gruppierungen ins Viertel. Auch das Steki Metanaston ist eine dieser politischen Gruppierungen in Exarchia.

Anlaufstelle für alle

Ein verwahrlost aussehender Grieche baut sich vor Kostas Argaliotis auf. „Ich bin Anarchist und muss etwas Politisches mitteilen“, unterbricht er das Interview. „Die Polizei hat mir mein Taschenmesser abgenommen, obwohl es legal ist, eines zu besitzen. Ich suche jemanden aus dem antistaatlichen Raum, der mir hilft, mich zu verteidigen.“ Kostas vertröstet den Mann auf später. „Zu unserer Gemeinde gehört auch eine problematische Randgruppe“, sagt er.

„Dieser Mensch kommt zu uns, weil er das Gefühl hat, hier etwas finden zu können.“ In dem freiheitlichen Klima von Exarchia können sich die unterschiedlichsten Persönlichkeiten ausdrücken und entfalten. Und auch Drogenabhängige wie dieser junge Mann haben in der liberalen Atmosphäre ihren Platz.

Gerade in Krisenzeiten, wenn Armut, Obdachlosigkeit, Drogenabhängigkeit und Fremdenfeindlichkeit zunehmen und die Selbstmordrate steigt, ist die ehrenamtliche Arbeit von Menschen wie Kostas überlebenswichtig. Auf staatliche Hilfe wartet in Exarchia niemand – auch das hat Tradition.

Christos Triantis in seinem Plattenladen, der keinen Gewinn mehr abwirft. Bild: Elena Beis

Das Viertel hat viele willkürliche Polizeirazzien und Verhaftungen von Alternativen, Studenten und Punks erlebt, insbesondere in den 80er Jahren. Seit die Polizei wiederholt mit Steinhagel empfangen wurde, genießt es den Ruf eines „Anarchoviertels“, obwohl Anarchisten hier nur eine kleine Minderheit bilden. Das Verhältnis zwischen Staat, Polizei und den Linken in Exarchia spitzte sich zuletzt 2008 zu, als ein Jugendlicher von der Polizei erschossen wurde. Es folgten riesige Proteste, die von Exarchia auf ganz Griechenland übergriffen.

Bücher verkaufen um zu leben

Eine junge Frau mit kurz geschorenem Haar, einen Packen zerfetzter Bücher in der Hand, spaziert am Steki vorbei und läuft weiter unten in den hippen kleinen Plattenladen von Christos Triantis, einem Musiker und Plattenlabelbesitzer. „Ich lebe seit letztem Jahr draußen neben dem Basketballfeld“, sagt sie, „und verkaufe diese Büchlein, damit ich etwas zu essen kaufen kann.“

In Exarchia werden die wenigen Mittel, die vorhanden sind, weitergereicht: Der Buchladen, der kaum etwas verkauft, verschenkt Bücher an die Obdachlose, die diese an die anderen Ladenbesitzer des Viertels verkauft. „Gerne würde ich dir ein paar abkaufen, aber heute war noch niemand im Laden, und ich habe nichts in der Kasse“, sagt Christos. „Komm doch morgen wieder.“ Das ist keine Ausrede, kein leeres Versprechen, auch wenn er von seinem Geschäft kaum mehr leben kann.

Die Fachkräfte Georgios Tselepidis und Kostas Vogeros sind froh, dass sie sich noch einen Kaffee leisten können. Bild: Elena Beis

Seit 2007 befinde sich alles im Niedergang, meint Christos, und am schlimmsten dabei sei die Unsicherheit. „Jetzt heißt es wieder, die Drachme kommt. Aber ich möchte neue Platten bestellen. Und nun frage ich mich: Kann ich dieses Risiko eingehen?“ Er wird abwarten, und das Gefühl, nichts in der Hand zu haben, wird bleiben.

Glücklich beim Kaffee

Die Straße, in der sich sein Plattenladen befindet, führt an einer der drei Gemeinschaftsküchen von Exarchia vorbei. Ein paar ältere Menschen warten davor auf eine Gratismahlzeit. Georgios Tselepidis und Kostas Vogeros beobachten das Geschehen vom Café gegenüber. „Wir sitzen hier, weil wir noch die drei Euro für einen Kaffee haben“, sagt Georgios.

Angesichts einer Jugendarbeitslosenquote von 60 Prozent können sich die beiden glücklich schätzen, Arbeit zu haben. Auch wenn sie wie die meisten Erwerbstätigen kein volles Gehalt mehr beziehen. Beide arbeiten in einer Klinik als Fachkräfte für Radiologie und bekommen seit eineinhalb Jahren nur noch ein Viertel des früheren Lohns – wenn überhaupt. „Wir können nicht sagen: Dieses Unternehmen nutzt mich aus, ich gehe woanders hin“, sagt Georgios.

„Es gibt kein Woanders. Wir akzeptieren alles, damit wir zumindest einen Laib Brot zu Hause haben.“ Seit „zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit“ das Arbeitsrecht in Griechenland gelockert wurde, sind Vollzeitjobs ohne Arbeitszeitbeschränkung, Sozial- bzw. Krankenversicherung und Kündigungsfrist für 400 Euro im Monat zur Regel geworden – und sogar um die muss man bangen. „Jeden Morgen habe ich Angst: Werde ich die Tür zu der Firma noch offen finden?“, sagt Georgios.

Für die Zukunft hegt er keine Hoffnung. Das viel gepriesene Wachstum werde es nicht geben, sagt er. „Wer wird sich etwas kaufen, wenn er nur noch 300 Euro verdient? Die Investoren sind die Einzigen, die einen Aufschwung erleben werden, weil die Löhne von 1.200 auf 300 Euro gesunken sind.“

Nicht nur Gerede

Kostas’ einzige Hoffnung ist deshalb, „dass die Gesellschaft ein solches Maß an Armut erreicht, dass sie dagegen revoltiert.“ Neben gelebter Nachbarschaftshilfe und Antistaatlichkeit ist die politische Diskussion die dritte große Leidenschaft von Exarchia – zu jeder Tages- und Nachtzeit hört man Menschen diskutieren. Aber es bleibt nicht nur beim Gespräch: Ortsansässige klären in Versammlungen, Diskussionen und über Flyer darüber auf, was die Krise bedeutet, wie sie entstanden ist und wie sie überwunden werden kann. „Exarchia macht aus der Krise ein großes politisches Ding“, sagt Kostas.

Vor dem Steki ist es mittlerweile ruhig geworden, Kostas Argaliotis sitzt immer noch davor. Auch er unterhält sich mit zwei Nachbarn über die Krise und die Politik. „Die Linke sieht nun, dass es darum geht, etwas für die Armen zu tun, statt nur über sie zu sprechen.“ In jedem Viertel, auch außerhalb von Exarchia, brauche man Gemeinschaftsküchen, ehrenamtliche Arztpraxen und Depots für gespendete Medikamente, damit die Armut keine „barbarische Formen“ annimmt. Die Linke folgt dem Beispiel Exarchias und organisiert sich auch in anderen Vierteln.

„Was den Zusammenhalt angeht, bin ich zuversichtlich“, sagt Kostas, „aber die soziale Mobilität wird zunehmen.“ Gerade sei beschlossen worden, weitere 11,5 Milliarden Euro einzusparen. Das bedeute entsprechend mehr Armut. Renten werden gekürzt, die ohnehin nur bei 300 Euro liegen, schwer kranke Menschen bekämen keine Medikamente mehr. „Sollen wir diese Menschen sterben lassen? Ich bin sicher, bevor es Tote gibt, wird die Gesellschaft einspringen.“

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