Kolumne Back on the Scene: Ein Fall für politische Tortung

Katharina Reiche (CDU) sieht in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften eine Bedrohung für den deutschen Wohlstand. Kaffeekränzchen, sofort!

Keine Torte ins Gesicht, aber ein Shitstorm auf Facebook: Katherina Reiche bei Maybrit Illner. Bild: screenshot ZDF

Eines der beliebtesten YouTube-Videos von Hape Kerkeling heißt „Schwule im Café“ – darin schlüpft er in die Rolle einer bösartigen, frauenfeindlichen Tunte („Das war ein Sche-herz!“), die im Café Korten Torte einkaufen möchte. Gibt es solche Schwule?

Es gibt sie, so wie es auch Frauen gibt, die Homosexuelle ablehnen. In den späten Siebzigern zum Beispiel stand die amerikanische Sängerin Anita Bryant – ehemalige „Miss Oklahoma“, Werbeträgerin für Orangensaft aus Florida und gläubige Baptistin – an vorderster Front.

Sie erreichte, dass eine 1977 in Florida erlassene Menschenrechtsverordnung, die eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität verbot, zurückgenommen wurde: „Wenn Schwulen Rechte gegeben werden, werden wir als Nächstes Rechte an Prostituierte und an Menschen, die mit Bernhardinern schlafen, geben müssen“, sagte sie seinerzeit. Zudem gründete sie die dem Kindeswohl gewidmete Organisation „Save our Children“, weil sie zu wissen glaubte, „dass Homosexuelle biologisch nicht in der Lage sind, Kinder zu erzeugen; deshalb müssen sie unsere Kinder rekrutieren.“

Daraufhin wurde sie zu einem der ersten Opfer politischer „Tortung“: Während einer Pressekonferenz in Des Moines am 14. Oktober 1977 landete durch die Hand eines Schwulen-Aktivisten eine Bananencremetorte in ihrem Gesicht. „At least it’s a fruit iie“, sagte sie noch, bevor sie unter Tränen um Vergebung für den Täter mit dem „teuflischen Lebensstil“ betete. Ebenfalls ein YouTube-Klassiker.

35 Jahre später setzt sich Katherina Reiche, CDU, evangelische Brandenburgerin, bekennende Atomkraftfreundin und Parlamentarische Staatssekretärin in Peter Altmaiers Umweltministerium, in die ZDF-Talkshow „Maybrit Illner“, um ihre zuvor bereits der Bild anvertrauten Argumente auszubreiten: „Unsere Zukunft liegt in der Hand der Familien, nicht in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften. Neben der Eurokrise ist die demografische Entwicklung die größte Bedrohung unseres Wohlstands.“ Kein „fruit pie“ flog in ihr Gesicht, dafür aber ein Facebook-Shitstorm um die Ohren – obwohl sie eigentlich nur Dinge sagte, die auf der Linie ihrer Partei liegen, die sich erst vor Kurzem mehrheitlich gegen die Gleichstellung von Homosexuellen ausgesprochen hat.

35 Jahre später werden in den USA Homosexuelle für den Wahlkampf instrumentalisiert – so wie sie von der CDU/CSU zu Marketingzwecken in Geiselhaft genommen wurden. Doch diese Zeiten scheinen nun vorbei zu sein: Die Schwulen und Lesben in der Union begehren endlich auf. Fraktionskollege Jens Spahn, Mitglied jener „Wilden 13“, die sich für die steuerliche Gleichstellung homosexueller Partnerschaften einsetzen, twitterte, dass er sich von Frau Reiche als „Bedrohung unseres Wohlstands diffamiert“ fühle. Und die Junge Union von Frau Reiches eigenem Wahlkreises in Potsdam attestiert ihr ein mittelalterliches Weltbild.

Frau Reiche braucht keine Torte ins Gesicht, sondern mehr Gespräche über die Relevanz des Grundgesetzes bei Kaffee und Kuchen. Und zwar zusammen mit jenen (konservativen?) Homosexuellen, die sie laut Bild-Interview in ihrem Freundeskreis hat. Breisgauer Boskop-Batzen, Warschauer Granatbrocken-Mürbeteig, tasmanische Tollkirschen-Törtchen …

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* 21. Februar 1973 in Wittlich; † 26. Mai 2023 in Berlin, war Redakteur der taz am Wochenende. Sein Schwerpunkt lag auf gesellschaftlichen und LGBTI-Themen. Er veröffentlichte mehrere Bücher im Fischer Taschenbuchverlag („Generation Umhängetasche“, „Landlust“ und „Vertragt Euch“). Zuletzt erschien von ihm "Die Kapsel. Aids in der Bundesrepublik" im Suhrkamp-Verlag (2018). Martin Reichert lebte mit seinem Lebensgefährten in Berlin-Neukölln - und so oft es ging in Slowenien

* 21. Februar 1973 in Wittlich; † 26. Mai 2023 in Berlin, war Redakteur der taz am Wochenende. Sein Schwerpunkt lag auf gesellschaftlichen und LGBTI-Themen. Er veröffentlichte mehrere Bücher im Fischer Taschenbuchverlag („Generation Umhängetasche“, „Landlust“ und „Vertragt Euch“). Zuletzt erschien von ihm "Die Kapsel. Aids in der Bundesrepublik" im Suhrkamp-Verlag (2018). Martin Reichert lebte mit seinem Lebensgefährten in Berlin-Neukölln - und so oft es ging in Slowenien

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