Unter Ausnutzung aller offiziellen Spielräume

Der kubanische Regimegegner Oswaldo Payá erhält heute den Sacharow-Preis des Europaparlaments

Es ist das Jahr der Preise für Oswaldo Payá. Der Organisator des kubanischen „Proyecto Varela“, einer Referendumsinitiative für Meinungsfreiheit und Demokratie auf Kuba, darf heute persönlich in Straßburg den „Sacharow-Preis für Gedankenfreiheit“ entgegennehmen. Diesmal muss er nicht per Videobotschaft zu den Festgästen sprechen wie noch im September, als ihm das US-amerikanische National Democratic Institute den Harriman-Demokratie-Preis verlieh. Diesmal lässt die kubanische Regierung, der Payá in gewaltfreier, grundsätzlicher, radikaler Opposition gegenübersteht, den bekannten Dissidenten ausreisen. Im Oktober hatte das Europäische Parlament für Payá als diesjährigen Preisträger votiert. Jetzt machten sich europäische Politiker, allen voran der spanische Ministerpräsident José María Aznar, dafür stark, dass Payá die Genehmigung zur Ausreise nach anfänglichem Zögern doch erhielt.

Der 50-jährige Payá hat sich im Verlauf der letzten ein bis zwei Jahre zum bekanntesten Dissidenten Kubas entwickelt. Seine Idee: Die kubanische Verfassung selbst bietet Möglichkeiten, die von der Dissidenz öffentlichkeitswirksam ausgenutzt werden können. Ein Referendum, wie es das von Payá initiierte „Proyecto Varela“ vorschlägt, ist in der Verfassung selbst vorgesehen. Rund 11.000 Unterschriften konnten Payá und seine Mitstreiter für ihr Anliegen zusammenbekommen – die größte Initiative dieser Art seit der kubanischen Revolution 1959. Seine internationale Adelung erhielt das Projekt, als Ex-US-Präsident Jimmy Carter im Mai dieses Jahres Kuba besuchte und die Initiative in seiner live in spanischer Sprache übers kubanische Staatsfernsehen ausgestrahlten Ansprache erwähnte.

Das Regime reagierte ungewohnt unsouverän: Zwar ließ man Payá als Initiator in Ruhe – der Ingenieur für Medizintechnik ist einer der wenigen bekannten Dissidenten, die noch ihrer normalen Arbeit nachgehen können. Doch in einer Hals über Kopf ins Leben gerufenen Volksabstimmung ließ die Regierung Castro die Bevölkerung mit gewohnt klarer Mehrheit durchstimmen, dass der kubanische Sozialismus „unwiderruflich“ sei. Das hat jetzt Verfassungsrang und kann ohne Regimewechsel nicht mehr verändert werden – eine unsinnige Überreaktion, die zeigt, wie stark Payás Initiative und die Resonanz darauf das Regime berührt haben.

Payás Weg, die formal bestehenden legalen Spielräume auszunutzen und somit auf Missstände bei der Umsetzung sogar des eigenen Verfassungsanspruches aufmerksam zu machen, hat ihm in der kubanischen Oppositions- und Exilszene nicht nur Freunde eingebracht. Schon Mitte der 90er-Jahre machte Payá auf sich aufmerksam, weil er bei den kubanischen Listenwahlen versuchte, einen Platz als Kandidat zu bekommen – worauf das Regime mit teilweise rüden Rauswürfen, Drohungen und Einschüchterungen reagierte. Teile der Opposition hielten Payá für naiv und verrückt – er behielt seinen Ansatz bei.

Payá ist in seiner Linie unbeirrbar, und er spielt die ihm zugedachte Rolle professionell. Seine Rhetorik ist unverfänglich, geprägt von den Werten des Individuums, nicht von großer Ideologie. Er verfängt und wird immer bekannter. Der tschechische Präsident Václav Havel hat Payá für den Friedensnobelpreis 2003 nominiert. BERND PICKERT