Von der Wüste zum Meer

Der Leidensweg von „Eréndira“ als Befreiung: am Oldenburgischen Staatstheater steht Violeta Dinescus Oper nach einem Text von Garcia Maria Marquez auf dem Spielplan

Unermüdlich sorgt die Operndramaturgin des Oldenburgischen Staatstheaters, Anke Hoffmann, für die Präsenz zeitgenössischer Opern auf dem Spielplan. Eine solche Kontinuität zeigt, dass genau damit auch Publikum gezogen und erzogen wird. Dies steht im krassen Gegensatz zu der Meinung vieler Intendanten, man könne Derartiges dem Publikum nicht zumuten.

Zumindest war das wieder anlässlich der Aufführung von „Eréndira“, der dritten, 1992 entstandenen Oper der rumänischen, in Oldenburg lebenden und lehrenden Komponistin Violeta Dinescu der Fall, die jetzt einen eindrucksvollen Erfolg verbuchen konnte. „Eréndira“ beruht auf einer Novelle von Garcia Maria Marquez: „Die unglaubliche und traurige Geschichte von der einfältigen Eréndira und ihrer herzlosen Großmutter“.

Am Rande einer imaginären Wüste leben eine Großmutter und ihre vierzehnjährige Enkelin Eréndira, die sich fast wie eine Sklavin unablässig für das Wohl der Alten einsetzen muss. Als ein Feuer ausbricht und das Haus verbrennt, macht die Großmutter die Enkelin für den Schaden verantwortlich und fordert Begleichung des Schadens. Das bedeutet für das junge Mädchen Prostitution. Der mythische Befreier Ulysses kommt zu Hilfe und bringt die Oma um, Eréndira verschwindet in Richtung Meer in der unendlichen Weite, „und nie traf die geringste Nachricht von ihr ein, noch fand sich die geringste Spur ihres Unglücks“ (Marquez).

Weder Marquez noch die Komponistin noch die Librettistin Monika Rothmaier legen sich in irgendeiner gesellschaftlichen Deutungsrichtung fest: kein Generationenkonflikt, keine Frauenausbeutungsgeschichte, keine Liebesgeschichte, keine Mordgeschichte. Doch was bei der Komposition noch offen bleiben könnte, arbeitet die Regisseurin Mascha Pörzgen heraus: ein absurder, grotesker Traum, der an maßgeblichen Punkten immer auch in die menschliche Wirklichkeit und Not führt.

So ist die Lichtgestalt der Eréndira herzzerreißend zerbrechlich, Anja Metzger versteht es zu jedem Augenblick, aus ihrer puppenartigen Marionettenhaftigkeit einen vom Leben einigermaßen entsetzten Menschen zu machen. Die wuchtige Christina Ascher als Großmutter schafft es, aus einer vollendeten Karikatur Reste sowohl brutaler menschlicher Macht als auch eines hilflosen Seelengefängnisses zu zeigen. Und der so schöne, weiß gekleidete, spotverfolgte Ulysses: Paul Brady als Traumfigur und doch die wirkliche Rettung für Eréndira.

Diese Doppeldeutigkeit gibt die schillernde und vibrierende Musik von Dinescu vor, die ohne jegliche dramatische Aufdringlichkeit, nahezu auch ohne Höhepunkte in Atmosphären und Räume vorstößt, die in ihren phantasievollen Klangfarben und reichen ornamentalen Strukturen ihrerseits fesseln und den HörerInnen viel Freiheit an Deutung lassen. Die engagierte und intensive musikalische Wiedergabe unter der Leitung von Eric Solén ließ vergessen, dass man im Oldenburgischen Staatstheater saß und nicht auf einem Festival für zeitgenössische Musik.

Ute Schalz-Laurenze

Die nächsten Aufführungen am 11. und 21. Dezember