In der elendigen Ironiefalle

Im historischen Moment der Vereinigung wollten die „89er“ weniger einen politischen Traum verwirklichen als vielmehr ihr privates Glück. Nun versucht Susanne Leinemann, diese Generation abseits aller Klischees zu beschreiben und zu verteidigen

„89 war die Stunde unserer Generation, aber wir machten sie uns nicht zu Eigen“

von DIETER RULFF

Als die „Generation 89“ um das Jahr 1994 herum das Licht der Feuilletons erblickte, war noch nicht abzusehen, was aus ihr werden sollte. Klar war nur, wie sie auf keinen Fall werden durfte: wie die 68er. Der gemeine 89er firmierte also vor allem als dessen Antipode, entsprechend dürftig war sein kultureller und politischer Ansatz: Nationalistisch statt internationalistisch, partikular statt universal, freiheitlich statt egalitär, rechts statt links. Eine ganze Schar vornehmlich westdeutscher, zumeist älterer Intellektueller leistete ihm wortgewaltig Hebammendienste. Immerhin sollten die 89er, wie der Politologe Claus Leggewie damals schrieb, „die ersten Leitfiguren der Berliner Republik“ werden. Doch weit davon entfernt, sich an die Erfüllung ihres Auftrags zu machen, verschwand diese Generation bald wieder in der Versenkung feuilletonistischer Randspalten – gerade so, als habe es sie außerhalb der Köpfe, die sie geboren haben, nie gegeben.

Es hat sie gegeben. Doch sie war anders, als es sich die Denker von damals erdachten. Die wirklichen 89er wurden nicht wahrgenommen, weil sie beharrlich schwiegen. Die Jugend, die im Westen, eingeklemmt zwischen Helmut Kohl und den 68ern, ihren Weg suchte und die im Osten ihre Freiheit im privaten Rückzug und schließlich in der Flucht fand, sie einte eines: die Aversion gegen die Rede, den Diskurs, die öffentliche Ansprache. Denn das war das Instrument der Herrschaft, das die Altvordern hüben wie drüben perfekt zu nutzen wussten.

Vielleicht ist das der Grund, weshalb die Journalistin Susanne Leinemann erst mit einem Abstand von 13 Jahren ihre Erlebnisse vor und nach der Wende in einem Buch niedergeschrieben hat, das gleichsam diesem Gefühl ihrer Generation Ausdruck verleiht wie auch zur Reflexion über das darin liegende eigene Versagen anregen will.

„Aufgewacht. Mauer weg“ ist der Appell, den immer währenden Tanz auf der Mauer zu beenden, bevor er zu Nostalgie gerinnt – und stattdessen die Verhältnisse ein wenig zum Tanzen zu bringen. Denn die sehen für diese Generation nicht gut aus. Es ist zugleich die Geschichte einer West-Ost-Beziehung: Sie begann wie jene der beiden Königskinder, um im Moment der Einheit an ihrer Vereinigung auseinander zu brechen. Das ungeschützte Aufeinandertreffen konnte nicht als pures Glück empfunden werden, die plötzliche Gemeinsamkeit verlangte reflexhaft nach Trennendem. Der Systemwettbewerb fand seine Fortsetzung in Beziehungskrächen. Wie die Liebe der Autorin zu ihrem Freund aus Dresden, so kühlten in jenen Tagen des Einswerdens tausendfach deutsch-deutsche Freundschaften ab.

Die vielen kleinen privaten Dramen gehen unter in dem großartigen Schauspiel, das im Herbst 89 auf der deutsch-deutschen Bühne gegeben wird. Erster Akt an der österreich-ungarischen Grenze und in der deutschen Botschaft zu Prag, zweiter Akt auf dem Stadtring von Leipzig und auf dem Alexanderplatz in Berlin und das Finale auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor. Viel ist über diese Zeit schon geschrieben worden, doch Leinemanns Inszenierung unterscheidet sich markant von anderen. Es ist kein Staatsschauspiel mit Helmut Kohl und Michael Gorbatschow in den Hauptrollen, auch kein friedliches Revolutionstheater der Bohleys und Poppes. Ihre Protagonisten sind die jungen Leute, die durch ihre Flucht die DDR kollabieren lassen, die weniger einen politischen Traum verwirklichen wollen als vielmehr ihr privates Glück. Für Leinemann war es die Befreiung aus bundesrepublikanischen Sicherheiten, die ihre Generation als einengend empfand, die Niederlage aller Autoritäten. Man lebte radikal, die Revolution als Event, als erste Love Parade. Das einte die Jugend in Ost und West.

Doch während die 89er noch auf der Mauer feierten, legte Helmut Kohl auf deren Trümmern bereits das Fundament für weitere acht Jahre seiner Regentschaft. Auch die Linke berappelte sich schneller, als sie selbst erhofft hatte, indem sie die friedliche Revolution ihrer zivilgesellschaflichen Tradition einverleibte. Damit war die Deutungshoheit wiederhergestellt. „89 war die Stunde unserer Generation, aber wir machten sie uns nicht zu Eigen.“ Mit dieser Diagnose gibt Leinemann dem allgemeinen Unbehagen ihrer Altersgruppe am fehlenden Sinnzusammenhang einen analytischen Kern. An dem kann sie sich abarbeiten.

Das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung ist mit zunehmendem Alter gewachsen, davon zeugt die Nachfrage nach literarischen Typisierungen wie „Generation Golf“, „Generation Ally“, „Generation @“ und „X“.

Mit der bedrohlichen Möglichkeit konfrontiert, in den Zeitläufen vergessen zu werden, gräbt Leinemann nach einer Identität, die sich über mehr definiert, als In-Klamotten und Szeneclubs. Denn sie ahnt, dass die Schröders und Fischers selbst „vor der Pensionierung noch eine hungrige Generation“ sind und so einfach nicht weichen werden.

Mit ihrem Buch hat sie das politische Moment dieser eigenen Identität freigelegt, zugleich aber auch den Grund für das Unvermögen, sich seiner zu bemächtigen. Es ist der distanzierte Unernst, den diese Generation den Lebensäußerungen, auch den eigenen, angedeihen lässt, das Spielerische, mit dem sie sich jeder Kontroverse entzieht, sobald diese eine Haltung erfordert. Wir waren dabei, schreibt Leinemann, und spotteten über unser eigenes Engagement.

Aus ihrer Ironiefalle konnte sich diese Generation bislang nicht befreien. Dass danach jedoch ein virulentes Bedürfnis besteht, dafür spricht das Interesse, das dem jungen amerikanischen Autor Jedediah Purdy derzeit zuteil wird. Er hat ein heftiges Plädoyer verfasst, „Das Elend der Ironie“ zu überwinden – durch Rückbesinnung auf grundlegende Werte des guten Lebens und vor allem durch die Restaurierung der Öffentlichkeit als Ort des Disputs über die allgemeinen Belange. Beides bedeutet allerdings, eine Haltung einzunehmen und sich auch den Sachaspekten der Gesellschaft zu widmen. Anderenfalls droht die Ahnung von Florian Illies Wirklichkeit zu werden, „dass wir eine Generation sein werden, für die das Älterwerden zur Katastrophe wird, weil sie sich viel zu viel darauf einbildet, jung zu sein“. Vor diesem Schicksal will Leinemann ihre Altersgenossen bewahren.

Susanne Leinemann: „Aufgewacht. Mauer weg“, DVA, Stuttgart/München 2002, 270 Seiten, 19,90 €