„Rot-Grün verpatzt die Chancen“

Interview ROBERT MISIK

taz: Herr Beck, Sie haben Ihrem neuen Buch eine Einleitung über das Aufkommen des Rechtspopulismus in Europa vorangestellt. Nun ist die Liste Pim Fortuyn in Holland kollabiert, Schill ist entzaubert, Möllemann ist krank, und in Österreich droht der FPÖ eine vernichtende Niederlage. Ist der Spuk schon wieder vorbei?

Ulrich Beck: Ich fürchte, diese Deutung ist zu einfach. Die Gründe, die dem rechten Populismus zum Aufstieg verholfen haben, bestehen fort. Dazu gehört vor allem, dass sich die etablierten Parteien nicht die Mühe machen, die großen Fragen anzugehen, die weltweit auf der Tagesordnung stehen. Die Schwäche der traditionellen Kräfte ist die Stärke der populistischen Kräfte. Aber in den Ereignissen, die Sie erwähnen, liegt dennoch eine Lehre, nämlich die: Der Rechtspopulismus ist kein stabiler Bündnispartner für konservative Parteien. Die rechte Mitte hat darum zwei sehr unangenehme Alternativen, die beide für sie schwer zu akzeptieren sind: Entweder muss sie sich für sozialdemokratische und grüne Themen öffnen, oder sie geht ein Bündnis mit dem Chaos ein.

Man könnte aber doch auch sagen: Nehmt die Populisten so schnell wie möglich in die Regierung, dann sind sie nämlich hin.

Schauen wir doch kurz über Europa hinaus. Im Grunde haben wir doch auch eine rechtspopulistische Regierung in den USA, die es sehr geschickt versteht, durch eine große Mission – Krieg gegen den Terror – andere Fragen zu absorbieren und große Mehrheiten zu erzielen. Freiheitsrechte werden abgebaut und militärische Optionen aufgebaut. Das strahlt auf Europa aus. Die Gefahr des Rechtspopulismus ist keineswegs gebrochen.

Einzelne Debakel sind also einzelne Debakel – nicht mehr?

Fragen wir umgekehrt: Wo liegt der Sieg der Rechtspopulisten? Vordergründige Antwort: in dem Einzug in die Regierung. Aber das ist nicht alles. Er liegt ja wesentlich darin, dass ihre Ziele und Werte in die etablierten Parteien hineingetragen werden. Der rechte Populismus infiziert das politische Milieu. Das sieht man in Frankreich, in Österreich und in Italien sowieso, auch in Großbritannien.

Sie haben vom Dilemma der traditionellen Politik gesprochen. Dafür, so die Schlüsselthese Ihres neuen Buchs, ist deren fortbestehende Nationalstaatszentriertheit verantwortlich. Demgegenüber plädieren Sie für einen „selbstkritischen Kosmopolitismus“ als die nächste „große Idee“. Ist das nicht Wunschdenken?

Das ganze Buch ist ein Versuch, zu zeigen, dass es kosmopolitische Realpolitik gibt. Früher hieß es, es gibt nationale Realpolitik auf der einen, den humanitären, kosmopolitischen Idealismus auf der anderen Seite. Ich drehe das um. Im Grunde sind wir in einer Situation, in der nationalstaatliche Lösungen fiktiv und illusionär geworden sind. Politischer Realismus heißt daher, zu sehen, dass wir unsere drängendsten, auch nationalen Probleme eben nicht mehr im Alleingang lösen können.

Politik hat daraus bisweilen ihre Schlüsse gezogen, nehmen wir nur die Schaffung der Europäischen Gemeinschaft. Zuerst stand ein eher katholisch-konservativer Kosmopolitismus Pate. Die Integration vertiefte sich durch die Schaffung wechselseitiger Wirtschaftsinteressen und durch zunehmende Verrechtlichung bis hin zur Europäischen Union. Was Europa bestimmt, ist heute ein kosmopolitisches Modell, keineswegs ein nationalstaatliches, wenngleich das noch immer in den Köpfen herumspukt.

Andererseits krankt es genug in diesem seltsamen europäischen Superstaat. Bis die Bürger die EU als ihr Staatswesen begreifen, ist es noch ein weiter Weg …

Das liegt aber daran, dass dieser Kosmopolitismus noch nicht richtig verstanden wird. Wir glauben, am Ende der europäischen Staatsbildung müsse entweder ein Europa der Vaterländer stehen oder aber ein europäisches Volk, eine Homogenität, wie wir sie aus dem Nationalstaat kennen. Beide Vorstellungen leiten in die Irre.

Der Verfassungsentwurf, der nun dem EU-Konvent vorgelegt wurde, ist der ein großer Sprung vorwärts?

Für die Vielfalt der politischen Verfassungskulturen braucht es jetzt einen Verfassungsrahmen und den – sehr wichtigen – symbolischen Überbau. Denn wie man die Bürgerrechte im europäischen Rahmen definiert, entscheidet darüber, wie sich die Bürger mit Europa identifizieren, über Grenzen hinweg engagieren.

Sie nennen noch weitere Beispiele für Ihre These vom kosmopolitischen Realismus: den Fall Pinochet, den Internationalen Strafgerichtshof. Aber gibt es nicht auch genügend Gegenbeispiele?

Ja, und es gibt auch verwirrende Mischformen. So kann der Kosmopolitismus für nationalstaatliche Hegemonieinteressen instrumentalisiert werden. Oder die Kooperation zwischen Staaten kann im Dienste einer Zitadellenvision stehen; das sieht man deutlich an der gegenwärtigen Irak-Debatte und auch insgesamt am Krieg gegen den Terror.

„Realitätsveränderung setzt Blickveränderung voraus“, schreiben Sie. Dass die Welt sich ändert, wenn wir nur unsere Perspektive auf sie ändern, ist ja eine gewagte These.

Das ist mein zentraler Punkt. Die Vorstellung, dass die Politik am Ende ist und sich in ihrem Detailgestrüpp verfängt – wie das jetzt wieder in Deutschland hochkommt –, die stimmt nur, wenn man Politik mit nationalstaatlicher Politik gleichsetzt.

Was müsste ein Politiker, der auf der Höhe unserer Zeit ist, Ihrer Meinung nach tun?

Die Vorstellung etwa, dass man mit der Konzentration auf einzelne Detailfragen der Arbeitsmarktregulierung – wie sie in Deutschland der Hartz-Plan vorsieht – die Gesellschaft reformieren kann, ist jedenfalls eine Fehlvorstellung. Gerade eine Reformpolitik in Zeiten der Krise bedarf großer Ideen, um große Mehrheiten zu erlangen. Nur so kann man Menschen aktivieren oder dazu bewegen, Einschnitte hinzunehmen.

Aber Leute wie Schröder oder Fischer sind ja nicht dumm. Und doch bleiben sie meist weitgehend reaktiv, weil sie einfach mit einer Fülle immer neuer Probleme konfrontiert sind, auf die sie meist auch schnell reagieren müssen.

Und sie verfangen sich immer wieder in einem Pragmatismus des Kleinredens von Ideen. Dann dürfen sie sich aber nicht wundern, wenn sie in diesem Mechanismus zerrieben werden. Der Verzicht auf Ideen ist ein Verzicht auf Macht.

Das Publikum wäre bereit für eine ambitionierte Reformpolitik?

Ich denke schon. Im Grunde sind doch alle unsere Gesellschaften gespalten: in eine experimentierfreudigere Hälfte und in jene, die sich stärker abkapseln, traditionalistisch, protektionistisch reagieren. Diese Polarisierung ist stark zu spüren, ob in den USA, in Deutschland oder anderswo. In Deutschland hat sich gezeigt, dass sich die eher weltoffene Strömung durchsetzen konnte, auch bei Wahlen.

Allerdings nicht auf der Basis eines besonders elaborierten Reformprogramms.

Ich sage: Obwohl sie ein charismatisches Reformprogramm nun wirklich nicht hatte, hat sie sich dennoch durchgesetzt!

Nur zwei Monate nach der Wahl ist Rot-Grün einem Kreuzfeuer der Kritik ausgesetzt. Schon wieder ein Fehlstart?

Schröder verfährt nach dem Motto: Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen. Rot-Grün hat ein völlig antiquiertes Politikverständnis. Die denken doch tatsächlich, sie sitzen an den Hebeln der Macht und müssen von paritätisch besetzten Kommissionen ergrübelte, konsensgestählte Konzepte nur „eins zu eins“ umsetzen. Ausgerechnet Rot-Grün verpatzt die Chancen einer sich verflüssigenden Welt, hat die Macht bildende Kraft der Ideen verloren und droht darum zu scheitern.

Ist es nicht so, dass ambitioniertere Ideen meist untergehen, weil die Politik nach allen Seiten hin Kompromisse schließen muss – innerhalb der nationalen Gesellschaften, im Kontext der EU, gar nicht zu reden vom globalen Kontext. Wie soll da große Politik wieder entstehen?

Nehmen wir den 11. September 2001. Damals wurde schlagartig ein Konsens geschaffen. Die Gefahr für alle ließ alte Gräben, zumindest für eine historische Weltsekunde lang, zusammenbrechen. Das eröffnete Handlungsräume. Ein anderes Beispiel: Die größte Revolution, die Schröder in seiner Regierungszeit vollbrachte, vollzog sich im Wirbelsturm der BSE-Krise. Da wurde möglich, was vorher undenkbar war: Die Agrarlobby, die das Landwirtschaftsministerium seit Jahrzehnten geradezu besitzt, wurde mit einem Federstrich entmachtet.

Politiker sollten Gewehr bei Fuß stehen, um bei der nächsten Katastrophe die Gelegenheit zu nutzen?

In solchen Momenten gerät das, was völlig sicher schien, ins Wanken. Das zu nutzen ist eine der handwerklichen Fähigkeiten, die man von einem Politiker verlangen kann. Natürlich gibt es auch positivere Beispiele …

der Herbst 1989, der Fall der Mauer, wäre ein solches …

… ja, nur kann die Politik solche windows of opportunities nur nutzen, wenn sie gewillt ist, sich Mehrheiten für große Ideen zu erkämpfen.