Film- und Kulturgeschichte im Sack

Als Sex noch nach Revolte roch: „Der Pornograph“ mit Jean-Pierre Léaud in der Titelrolle – ein bizarrer Rückblick auf die Sexfilmindustrie

„Der Nagellack muss ab, sonst wird mir schlecht!“, interveniert Jacques Laurent zu Beginn der Dreharbeiten sanft bei seiner Hauptdarstellerin Jeanne, einer routinierten Porno-Actrice. Traumwandlerisch bewegt sich der „Pornograph“ durch die Sets, gibt fast flüsternd seine Regieanweisungen. In den Pausen erzählt er Anekdoten aus den goldenen Jahren seiner Laufbahn, den frühen Siebzigern. Laurent hatte damals, nach Lockerung der Gesetzgebung, den Markt mit kunstvollen Sexfilmen aufgemischt, die ihre Zuschauer mit gediegenem Ambiente sanft an die kommenden Umwertungen aller Werte heranführten. Nun hat sich endlich ein junger Produzent an Jacques Laurent erinnert, erhofft sich mit dessen Reanimation einen eigenen Karrieresprung.

Doch wie fast immer beim Film im Film: das Projekt geht schief. Zuletzt sieht sich Laurent an den Rand gedrängt. Der Kameramann hat noch nie etwas von Kadrierung gehört, der Nagellack bleibt dran, und weil eine Ejakulation des männlichen Stars offensichtlich nicht einmal vorgesehen ist, übernimmt der Produzent kurzerhand selbst die Regie. Wenig später klatscht Sperma ins Gesicht der Haupdarstellerin. Ohne Cumshot ist ein Porno nun mal kein Porno! Jacques Laurent sitzt resigniert in seinem offenbar untauglichen, an eine Marcel-Proust-Verfilmung gemahnenden Bühnenbild, blickt unschlüssig ins Nichts.

Jean-Pierre Léaud in der Titelrolle des alternden „Pornographen“ ist das große Ereignis dieses insgesamt eher merkwürdigen Films. Léaud, mit Schmerbauch, permanent leicht angefettetem Haar und nervösem Zucken in den Augenwinkeln, balanciert die Ungereimtheiten von „Der Pornograph“ spielerisch-souverän aus. Kaum vorstellbar, dass es mit ihm überhaupt einen richtig misslungenen Film geben könnte. Regisseur Bertrand Bonello muss eingeräumt werden, diese Potenzen zielsicher erkannt zu haben. Indem er den momentan eher unterbeschäftigten Léaud besetzte, hinterfütterte er das eigene Unterfangen zudem mit einem gewaltigen kulturhistorischen Background. Denn natürlich denkt man bei Léaud automatisch Truffaut, Cocteau, Eustache, Pasolini, Bertolucci und eben Godard mit. Wenn Laurent gegen Ende des Films in einem Interview über seine Kindheit ausführt, dass er als Sohn eines Arztes eine ganz normale Kindheit gehabt habe, weder glücklich noch unglücklich, eben eine ganz normale Kindheit, so scheint dies wörtlich einem Godard-Interview entnommen.

Laurent wird in biografischen Rückblenden als ein Mann beschrieben, der die Pornographie zunächst als Akt des politischen Widerstands empfunden, sich aber recht schnell ans damit verbundene Geldverdienen gewöhnt hat. „Es ist mir erst beim Schneiden aufgefallen, dass man ,Pornographie‘ tatsächlich durch ,Autorenkino‘ ersetzen könnte“, behauptet Bonello selbst. Es ist die Stärke des Regisseurs, derartige Analogien aufzureißen. (Obwohl einem Mann wie Godard, der zeitlebens dem Prinzip der Verweigerung gehuldigt hat, damit natürlich Unrecht zuteil wird.) Die Schwäche Bonellos besteht in der mangelnden Konsequenz, auf diesen Analogien zu beharren.

Stattdessen lenkt er auf Nebenschauplätze ab. Nach dem ersten Drittel bringt er Jacques’ Sohn Joseph ins Spiel, der sich in dem Moment von seinem Vater abgewandt hatte, als er hinter dessen Profession gekommen war. Ausgerechnet in dem Moment, da sein Vater, materiell bedingt, in die verteufelte Branche zurückkehrt, erfolgt eine neuerliche Kontaktsuche durch den Sohn. Und die Annäherung scheitert wiederum. Die Parallelmontage der Problemlage von Vater und Sohn verhaspelt sich zusehends.

Joseph wird als Initiator einer Gruppe von Jungstudenten vorgestellt, die als höchste Form der Verweigerung das totale Verstummen wählen. Konsequenterweise besuchen sie einen Stummfilm von Carl Theodor Dreyer. Joseph indes verliebt sich und kündigt sofort seine Mitarbeit in jenem studentischen Geheimbund auf, für den er eben noch die Manifeste verfasst hat. Darin verraten sich seine Führungsqualitäten. Weil ihn die Hauptdarstellerin an seine Geliebte erinnert, sieht er sich im Kino „Deus’ Hochzeit“ von João César Monteiro an. In den Filmkunstkinos sitzen ebenso wenig Zuschauer wie im einzigen Sex-Schuppen, der noch einen Film seines Vaters zeigt. In dieser Vergeblichkeit scheint sich doch noch eine generationsübergreifende Geste anzudeuten. CLAUS LÖSER

„Der Pornograph“. Regie und Buch: Bertrand Bonello. Mit Jean-Pierre Léaud, Jérémie Rénier, Dominique Blanc u. a., Frankreich 2001, 108 Min.