Im Eintopf faule Fische

Wie der Statistikprofessor Walter Krämer gemeinsam mit seiner Tochter Eva das bei Eichborn erschienene „Lexikon der Städtebeschimpfungen“ zusammenklabautert hat

Es steht gut um die deutsche Wissenschaft. Zumindest um die Wissenschaft in Westfalen. Denn der Dortmunder Statistikprofessor Walter Krämer hat viel Zeit, um neben seiner universitären Tätigkeit populäre Bücher wie das „Lexikon der populären Irrtümer“ herauszugeben. Jetzt hat Krämer gemeinsam mit seiner Tochter Eva ein neues Buch im Eichborn Verlag veröffentlicht: das „Lexikon der Städtebeschimpfungen. Boshafte Berichte und Schmähungen von Aachen bis Zürich“. Abgesehen vom grammatikalischen Unfug der Unterzeile, glaubt man zunächst an einen Irrtum, denn der Untertitel kommt einem arg bekannt vor, wenn man sich an das 1998 von Jürgen Roth und Rayk Wieland im Reclam Verlag Leipzig herausgegebene Werk „Öde Orte“ erinnert, das den Untertitel „Ausgesuchte Stadtkritiken: von Aachen bis Zwickau“ trägt. Die Nähe ist kein Zufall. Krämer & Krämer haben ein astreines Plagiat vorgelegt.

Wenn ein Wirtschafts- und Sozialstatistiker sich auf das literarische Feld der Polemik begibt, mag man nicht viel erwarten, eigene Beiträge hat das Autorenpaar bis auf das lieblose Vorwort nicht verfasst. Stattdessen haben die beiden Pfiffkusse lieber Zitate gesammelt und behaupten frech: „Es war nicht immer leicht, an diese Texte heranzukommen.“

Die erste Säule des Krämer-Lexikons bilden Eins-zu-eins-Zitate aus „Öde Orte“. Exakt 33 kurze und längere Städtebeschimpfungen hat Familie Krämer aus der Vorlage übernommen; außerdem wurden vier Zitate von Walter Jens, Harald Schmidt, Eckhard Henscheid und Günter Bruno Fuchs einfach vom Klappentext abgepinnt. Unter den jeweiligen Texten findet sich nichts als ein Autorenname und eine Jahresangabe zur Person. Aber wer weiß schon, warum beispielsweise „Holm Friebe (*1972)“ Lüdenscheid kritisiert, warum „Susanne Fischer (*1960)“ über Celle schreibt, hier aber unter „Uelzen“ firmiert, oder warum „Jürgen Roth (*1945)“, der übrigens nicht 1945, sondern 1968 geboren ist, Fürth beschimpft? Es gibt keine Fußnoten, keine Anmerkungen, nicht einen einzigen Hinweis darauf, dass viele Verfasser eines gemeinsam haben: Sie haben ihre Originalbeiträge für „Öde Orte“ geschrieben. In der fünfseitigen „Auswahlbibliographie“ jedenfalls gibt es keine Quellenangabe, die auf das Original verweist, es wird an keiner Stelle auch nur erwähnt. Ist das noch ein Plagiat oder schon Diebstahl?

Die zweite Säule des Krämer-Lexikons beruht auf Internet-Funden. Unter manchen Texten findet sich der lakonische Hinweis „Aus dem Internet“, und spätestens hier möchte man das Netz endgültig abgeschafft sehen. Jeder Trottel, der heute eine Telefonbuchse und ein Laptop besitzt, glaubt bereits recherchieren zu können. Auch Krämer & Krämer haben fleißig gegoogelt: Sie haben sich auf so genannten Gästebuchseiten von Städten oder auf privaten Homepages umgeschaut und dort belanglose Bemerkungen aus dem Zusammenhang gerissen. Was etwa der Nürnberg-Eintrag „Mit Fürth zusammen ganz nett, sehr groß“ mit dem Genre Polemik zu tun hat, das kann wohl nur das Krämer-Paar erklären.

Ansonsten haben die beiden Wissenschaftler Reisemagazine im Internet geplündert: Zum Beispiel wird von schwarzaufweiss.de ein Text der nicht genannten Autorin Ulla Ackermann über Kairo oder von MorgenWelt.de eine Brüssel-Reportage des ebenfalls nicht ausgewiesenen Autors Alexander Kupfer abgegriffen. Mehr noch: Viele Quellenangaben verweisen lapidar auf Zeitungen und Zeitschriften. Dass aus Kostengründen die Autorennamen weggelassen wurden, wird die Kollegen Anne Hufschmidt, deren Mexiko-Reportage aus der taz vom 24. 1. 2002 arg zerstückelt wurde, oder Ulrich Stock, dessen Recklinghausen-Artikel im Reiseteil der Zeit (11/2002) auf eine ganze Buchseite übertragen wurde, kaum freuen. Eine Empfehlung an die Kollegen wäre: Einfach beim Eichborn Verlag anrufen und ein Honorar für die Zweitverwertung verlang… – Moment mal! In diesem Augenblick entdecke ich, dass es auch mich selbst betrifft: Der Text über Hagen stammt von der Wahrheitseite vom 8. 6. 2000 und ist selbstverständlich ungefragt in das „Lexikon“ gelangt. Beim Henker! Man fühlt sich in die leere Halle des Dortmunder Wissens entführt, an einen Stuhl gefesselt und mit vorgehaltener Pistole von Krämer & Krämer bedroht: „Her mit deinem geistigen Eigentum, oder du landest mit Betonfüssen auf dem Grund des Flusses.“ Und in der Luft hängt der Geruch von faulen Fischen.

Apropos faul. Die dritte Säule des Krämer-Lexikons bilden Zitate bekannter, meist historischer Persönlichkeiten, denen man ganz sicher kein Honorar zahlen muss. Literaten, Schauspieler, Künstler, die sich in irgendeiner Form zu irgendeiner Stadt geäußert haben. Das „irgend“ aber ist das Problem. Den Herausgebern geht es weniger um die angekündigten „Städtebeschimpfungen“ als um die großen Namen. Deshalb werden immer wieder ganzseitige Porträts der bedeutenden Damen und Herren in das korrupte Textkonvolut eingestreut. Wozu?, fragt man sich, wären nicht Städteporträts sehr viel schlüssiger? Die Biografien der Verfasser lassen sich bei Interesse in Enzyklopädien nachlesen. Nein, hier möchte sich jemand Bedeutung aus der Geistesgeschichte heranholen, um das eigene karge Gedankensüppchen aufzuwerten. Dabei allerdings werden immer wieder die falschen Zutaten eingerührt. In diesem Lexikon-Eintopf wimmelt es nur so von Fehlern. Mit den Zahlen hat es der Statistiker Krämer nämlich nicht:

Friedrich Christian Laukhard, der hier mal mit „dt“, mal mit einfachem End-„d“ geschrieben wird, ist auf der einen Buchseite im Jahr 1754, auf der nächsten 1757 geboren. Auf den ersten Blick mag dies ein bedauerlicher Setz-, ein Flüchtigkeitsfehler sein. Doch bereits eine kursorische Lektüre offenbart das ganze Ausmaß der lexikalen Katastrophe: „Fürst Pückler (1775–1871)“ ist leider zehn Jahre später, 1785, geboren. „J. de Blainville (1705–1709)“ hat glücklicherweise seinen vierten Geburtstag weit überlebt. „Theodor Fontane (1829–1898)“ würde sich sicher über die zehn Jahre, die ihm hier gestohlen werden, grämen, wurde er doch 1819 geboren. „Robert Schumann (1810–1956)“ wurde bedauerlichweise keine 146 Jahre alt, sondern verstarb 1856. „Mark Twain (1835–1910)“ wiederum wurde am 30. November 1832 geboren. Während „Heinrich Bitsch (*1899)“ – wer immer das auch ist – offenbar mit 103 Jahren immer noch nicht abtreten will. Wie auch „Erwin Schlieben (*1831)“ immer noch unter uns weilt. Dafür wurde „Paul Hegelmaier (1892–1903)“ nur elf Jahre alt – wobei eine kleine Recherche zeigt, dass Hegelmaier von 1892 bis 1903 Bürgermeister von Heilbronn war. Der gute, alte „Friedrich Nietzsche (1846–1900)“ hat tatsächlich schon 1844 das Licht der Welt erblickt. Dafür wurde „Walter Benjamin (1882–1940)“ erstmals 1892 auf Erden gesichtet. Und „Elias Canetti (1905–1954)“ überlebte den frühen Krämer-Tod glücklicherweise um 40 Jahre, damit er im Jahr 1981 den Literaturnobelpreis entgegennehmen konnte. Dies nur als kleine Auswahl, die verschweigt, dass „Schweinfurth“ nicht mit „th“ und „Eddi Irvine“ vielmehr mit „ie“ geschrieben wird. Schließlich ist Professor Krämer auch erster Vorsitzender des „Vereins Deutsche Sprache e. V.“, da wollen wir den Deutschtümler mit solchen und anderen sprachlichen Mängeln nicht weiter beunruhigen.

Aber so funktioniert populäre Wissenschaft wohl heute: Zusammenklabauterte Zitate aus einem nicht erwähnten Originalwerk, eine belanglose Internet-Recherche und eine mangelnde Sorgfalt im Umgang mit Daten und Namen – selten sah man ein liebloser zusammengepfuschtes Buch. Ein Vorschlag zur Güte: Die Herausgeber und der Verlag ziehen das „Lexikon“ stillschweigend zurück, bevor es in der Statistik der schamlosesten Bücher aller Zeiten eine Spitzenposition erobert. Doch zuvor möchte ich nicht vergessen, meine kleine Fehlerauflistung dem (nicht vorhandenen) Lektorat in Rechnung zu stellen; oder dem hochbestallten Herrn Professor persönlich. Töchterlein Eva wird auch einmal einen Monat ohne Taschengeld auskommen können.

MICHAEL RINGEL