candide lesen? jetzt und immer von WIGLAF DROSTE
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Als ich im Winter 2001 für Antje Kunstmann Voltaires „Candide“ als Hörbuch einlas, erfreute sich die zivilisierte Welt gerade der Tötung afghanischer Zivilisten durch US-amerikanische Soldaten, begangen im Namen des Guten und Humanistischen – als sei das Gewürge der Welt einzig geschaffen, um Voltaire nachträglich zu bestätigen:

Anfang 1759 erscheint Voltaires „Candide“; das Buch hat exakt die Klasse und den Sound, der Würdenträger aller Couleur in Wut geraten und sie ihre Schergen in Marsch setzen läßt: Schon zwei Monate nach Erscheinen wird „Candide“ auf Befehl des Rates der Stadt Genf vom Henker öffentlich verbrannt. Im fröhlichsten Tonfall beschreibt Voltaire die Welt, wie sie sich ihm zeigt: grausam, absurd und randvoll mit Krieg, Mord, Folter, Verfolgung und Wahn – und Voltaires Verzweiflung über die Verfassung der Welt und ihrer Bewohner ist so aufrichtig und lauter wie seine heitere, bösbockige Spottlust weise ist.

„Candide“ ist, wenn es das gibt, die Bibel der Aufklärung. Seine grimmige Heiterkeit ist ganz wahr. Auch das Wissen, dass es niemals Zeiten geben wird, in denen dieses Buch nicht aktuell ist, vermag die Freude beim Lesen nicht zu trüben. Die Welt ist ein Schlachthaus, ein Tollhaus außerdem, aber beides ist noch lange kein Grund, den Verstand an der Garderobe abzugeben und sich im positivistischen Gerede von der besten aller Welten zu ergehen, wie es Modephilosophen, Essayisten und andere Staatsträger zu allen Zeiten getan haben. Im „Candide“ hat Voltaire seine Haltung zur Welt am deutlichsten ausgedrückt: Er revoltiert gegen die Dummheit und Grausamkeit der menschlichen Natur, und was er ihr entgegenzusetzen hat, ist das Nobelste, das man geben kann: das Mitgefühl eines souveränen Geistes und einen scharfen, perlenden Hohn gegen alle, die – aus welchen miesen Gründen immer – den Status quo verherrlichen, auch wenn sie damit bloß die spärlichen Reste ihrer eigenen Intelligenz mit Füßen treten.

Dieses Buch leuchtet heller als alle Scheiterhaufen der Welt – von denen der nächste im Irak brennen wird, weil George W. Brezelbushs USA Öl brauchen und deshalb Krieg und deshalb behaupten, sie kämpften für Israel und die Freiheit der Menschenrechte, yeah …, und wer das fadenscheinige Dummzeug nicht glauben will, der ist dann eben Antiamerikaner und Antisemit, ätsch!

P.S.: Es gibt diverse deutschsprachige Übersetzungen des „Candide“ – die von Ilse Lehmann für Insel scheint mir die gelungenste. Richtiggehend abseitig ist die des Zonendichters Stephan Hermlin, die er 1972 für den Verlag Philipp Reclam Jun. Leipzig anfertigte. In Ilse Lehmanns Übertragung heißt der letzte Satz des „Candide“: „ ‚Sehr richtig‘, gab Candide zu, ‚aber wir müssen unseren Garten bestellen.‘ “ Im Vergleich Hermlins Versuch: „ ‚Wohl gesprochen‘, versetzte Candide, ‚aber wir haben in unserem Garten zu arbeiten.‘ “

„Wir haben in unserem Garten zu arbeiten“ – das ist der Ton des deutschen Bürokrators und niemals der Ton des Weltbürgers Voltaire.