Wirklichkeit als Grenzidee

Abschied vom Medium als Werkzeug: Nils Röller versucht sich an einer Engführung des Mathematikers Hermann Weyl und des Philosophen Ernst Cassirer. Bei beiden findet er schon weit vor Marshall McLuhans „magischen Kanälen“ die Idee, dass Medien Wahrnehmung organisieren

Es mag ein wenig verwundern, warum gerade der Mathematiker Hermann Weyl (1885–1955) und der Kulturphilosoph Ernst Cassirer (1874–1945) zu den Ahnherren der modernen Medientheorie zählen sollen. Gemeinhin verbindet sich erst mit dem Jahr 1964, nämlich dem Erscheinen von Marshall McLuhans „Understanding Media“, die Vorstellung von einer Theorie der Medien im eigentlichen Sinne.

Nils Röller, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Vilém-Flusser-Archiv der Kunsthochschule für Medien in Köln, setzt nun in seiner gerade erschienenen Dissertation mit der Bemerkung Hermann Weyls aus dem Jahre 1921 an, wonach das Kontinuum der reellen Zahlen als ein „Medium des freien Werdens“ gedacht werden kann. An Weyls Bemerkung anknüpfend, begriff Ernst Cassirer das mathematische Kontinuum als „ausgezeichnete symbolische Praxis“ und sprach in seiner „Philosophie der symbolischen Formen“ von „Medien, die es gestatten, heterogene menschliche Zeichenhandlungen unter einem bestimmten Fokus zu betrachten“.

Unter gegenseitiger Bezugnahme auf Weyl und Cassirer wird nun von Röller auf eine Begriffsbestimmung von Medien hingearbeitet, die sich nicht auf verengende Umschreibung von Medien als publizistische Massenkommunikationsmittel wie Tageszeitung, Fernsehen usw. einlässt, sondern mit der Vorstellung eines „Medien-Werdens“ operiert. Dieser Prozess, bei dem ein Wechsel vom instrumentell-werkzeughaften Gebrauch zum Wahrnehmung organisierenden Medium stattfindet, wird als epistemischer Übergang, als neuer erkenntnistheoretischer Weltzugriff beschrieben. Die Folgen eines solchen Übergangs, am Beispiel von Galileis Fernrohrbeobachtungen und dem Wandel vom geo- zum heliozentrischen Weltbild nachvollziehbar, zielen besonders für den Bereich der Medientheorie auf die Frage ab, ob „zwischen Verstehen und Wirklichkeit verfälschende oder justierende Mittel bei der Feststellung der Wahrheit zu berücksichtigen sind“.

Medien fungieren dabei als Mittler in einer dynamischen Synthese von sinnlicher Erfahrung (Cassirer) und mathematischem Kontinuum (Weyl), bei der weniger ein „Sein“ des Mediums im substanziellen als vielmehr ein „Werden“ im relationalen Sinne stattfindet. Als Beispiel für den medial geschaffenen Möglichkeitsraum bestimmt Cassirer die Zahl, die Vergleiche und weitergehende Operationen von bzw. mit physikalischen Größen wie Kraft, Wärme, Geschwindigkeit etc. erst ermöglicht; als abstraktes Medium der Physik, „in welchem die verschiedenen Sinnesgebiete einander begegnen und demgegenüber sie ihre spezifische Ungleichheit aufgeben“. Ähnlich wie das Medium Schrift sich durch eine unendliche Kombinierbarkeit der Buchstaben die Möglichkeit aufrechterhält, neue Wörter zu formulieren und diese mit Sinn belegt werden können, gilt auch für das Medium Zahl, das dieses sich seine Existenz durch freie Wahlfolgen erhält.

Am Beispiel der raum-zeitlichen Außenwelt, die Weyl abstrakt-mathematisch als vierdimensionales Medium auffasst, weist Röller für den Bereich der Physik einen Wandel der Begrifflichkeit von „Medium“ nach, die, infolge der Überlegungen Weyls, einen Übergang vom substanziell gegebenen Behälter zum konstruktiven, vom forschenden Intellekt bestimmten Bereich vollzieht. Als praktische Auswirkung dieser Vorstellung ist der Einsatz der Binärzahlen anzusehen, die mit zwei Ziffern den vormaligen Kanon aller Zahlen darstellen können, um, eingebettet in Computertechnik, einen prinzipiell unendlichen Möglichkeitsraum zu erschließen.

Lange vor Marshall McLuhan, der 1968 in „Die magischen Kanäle“ die Abhängigkeit raum-zeitlicher Wahrnehmungen von den verfügbaren Techniken konstatiert: „ … die ,Botschaft‘ jedes Mediums oder jeder Technik ist die Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt“, teilen Weyl und Cassirer im Rahmen ihrer nur theoretischen Annahmen die Einsicht, „dass die Wirklichkeit im erkenntnistheoretischen Sinne eine Grenzidee ist, der sich die physikalische Beschreibung unendlich nähern kann, ohne sie zu erfassen“. Abschließend führt Röller die Gedanken der Formalisierbarkeit wahrer Aussagen in eine Zeichensphäre über Verweise auf Max Bense (1910–1990) weiter, was schießlich in der Feststellung mündet, dass am Ende der Entwicklung der Computer und die Computerwissenschaft steht, welche die Trennung zwischen Lebensphilosophie und exakter Naturwissenschaft aufzuheben in der Lage sei.

Es ist das Verdienst dieser Arbeit, die wechselseitige Beeinflussung von Weyl und Cassirer nachzuzeichnen. Der hier aufgezeigte Weg zur Erforschung der Medien könnte am ehesten als „Differenztheorie“ bezeichnet werden, da sich der Übergang von einer tradierten zu einer neuen medial bedingten Wahrnehmung stets im Blick zurück, in der Differenz aus wahrnehmbar und ehedem nicht wahrnehmbar, erschließt. Dass dieses Verfahren zur Durchdringung historischer Medienkulturen erfolgreich angewandt werden kann, stellt die vorliegenden Arbeit unter Beweis. Wenn am Ende, an Sybille Krämer anschließend, bemerkt wird, „Medien sind blinde Flecken in medialen Prozessen, sie haften als bloße Spuren den Botschaften an“, sollte man diesem Band ohne Einschränkung das „Botschaft-Sein“ zuerkennen. MICHAEL ECKHARDT

Nils Röller, „Medientheorie im epistemischen Übergang. Hermann Weyls Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaften und Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen im Wechselverhältnis“. VDG Weimar 2002, 206 Seiten, 17 €