Die Mörder waren unter uns

Zwei Historiker deuten einen angeblichen „jüdischen Ritualmord“ vollkommen gegensätzlich

Im März 1900 wurde in der westpreußischen Kleinstadt Konitz ein achtzehnjähriger Gymnasiast ermordet. Nach und nach tauchten an verschiedenen Stellen die „kunstgerecht“ zerlegten Teile seiner Leiche auf: der Rumpf, ein Bein, schließlich der Kopf. Von Woche zu Woche nahm die Spannung zu, und allerlei Gerüchte über die „wahren Hintergründe“ des Verbrechens begannen zu zirkulieren: Hatten vielleicht „die Juden“ die Hand im Spiel? Die aus Berlin angereisten Kriminalbeamten standen vor einer schwierigen Aufgabe: viele Spuren waren bereits verwischt, Beweisstücke verschwunden. Echte Tatzeugen gab es keine, aber umso mehr Wichtigtuer und Geschichtenerzähler. Außerdem lauerten überall Reporter, denn die überregionale Presse hatte diesen Mord schnell als auflagensteigernde Sensation entdeckt.

Der Verdacht der Kriminalisten richtete sich vor allem gegen einen wohlhabenden christlichen Metzger, der den als Frauenheld bekannten Oberschüler vielleicht mit seiner Tochter erwischt hatte. Doch für die Ortsansässigen durfte das einfach nicht sein. Hatte nicht der Soundso den jüdischen Abdecker Israelski mit einem Sack beobachtet, der einen runden Gegenstand enthielt? Und hatte nicht die Soundso einen Gesprächsfetzen aufgeschnappt, aus dem „eindeutig“ hervorging, dass die jüdische Gemeinde etwas zu verbergen hatte? So kam das alte Märchen vom „Ritualmord“ wieder in Umlauf, und einige Honoratioren und Presseleute verbreiteten es systematisch weiter. Dagegen sahen sich die Ermittler dem Verdacht ausgesetzt, das „jüdische Komplott“ vertuschen zu wollen. Schließlich nahm der Mob die Sache selbst in die Hand, marschierte mit Hep-Hep-Rufen durch die Straßen und verlangte die Bestrafung der „Täter“. So kam es in Konitz und Umgebung zu etwa dreißig antisemitischen Krawallen, gegen die immer wieder Militär eingesetzt werden musste.

Der Fall selbst ist historisch relativ bekannt, denn noch den Nazis diente später der so genannte Konitzer Ritualmord als Beweis für die Laxheit der bürgerlichen Justiz. Aber die genauen Umstände der Tat und die Hintergründe der Affäre blieben bis heute im Dunkeln, und der oder die Mörder wurden nie ermittelt. Nun haben ein amerikanischer und ein deutscher Historiker, Helmut Walser Smith und Christoph Nonn, nahezu gleichzeitig das einschlägige Aktenmaterial aufgearbeitet und jeweils eine Mikrogeschichte dieses spektakulären Mordfalls verfasst. Interessant ist, dass die Ergebnisse nicht nur unterschiedlich, sondern geradezu konträr ausfallen. Deshalb lassen sich beide Bücher als eine Art unfreiwilliges geschichtswissenschaftliches Experiment betrachten: Obwohl zwei Autoren weitgehend dieselben Quellen lasen (nur Smith hat polnische Archive benutzt) und die Konitz-Affäre vor dem Hintergrund der lokalen Sozial- und Kulturgeschichte betrachten, entwickeln sie aufgrund unterschiedlicher Fragestellungen und Sensibilitäten völlig gegensätzliche Interpretationen.

Smith, so könnte man den Vergleich beginnen, hat eine gründliche wissenschaftliche Untersuchung geschrieben, nach allen Regeln der Kunst: Studium der Quellen und der Sekundärliteratur (bis hin zu mittelalterlichen Judenpogromen), differenzierende Fragestellung und schließlich eine Darstellungsform, die Analyse und (spannende) Narration miteinander verbindet. Nonn dagegen ist kurzerhand in die Haut eines Reporters geschlüpft, der aus dem „wilden Osten“ berichtet. Zwar hat auch er die Akten studiert, doch um der lockeren Darstellung willen lässt er seiner Fantasie freien Lauf und schildert oft „Szenen“, die sich nicht empirisch belegen lassen: Mikrogeschichte an der Grenze zur historischen Belletristik. Obwohl sich beide Autoren auf das methodische Instrumentarium der „historischen Anthropologie“ berufen, wenden sie es völlig verschieden an. Für Smith ist Konitz eine Art Südseeinsel, deren Bewohner von merkwürdigen Konflikten und Ängsten heimgesucht werden. Durch vergleichende Analysen versucht er sie zu verstehen. Aber er erliegt nie der Illusion, die fundamentale Fremdheit zu überwinden. Nonn dagegen scheint sich in Konitz heimisch zu fühlen, kann sich in die Leute hineinversetzen, sich sogar mit ihnen identifizieren. Den Konitzern ebenso wie den Lesern bietet er das vertrauliche „Wir“ an.

So bewegen sich beide Bücher in entgegengesetzte Richtungen: Für Smith liegt ein echter Kriminalfall vor, und deshalb liefert er am Schluss auch als Einziger eine plausible Antwort auf die Frage nach dem wahren Mörder. Für ihn sind die Konitzer Krawalle außerdem Indizien des ebenso latenten wie strukturellen Antisemitismus, der einige Jahrzehnte später in Deutschland die Oberhand gewinnen wird. Für Nonn ist der Krimi nur ein Anlass, den er schon in der Mitte des Buchs vergessen hat. Wie für die Konitzer Polizei verläuft die Mörderjagd bei ihm im Sande. Eigentlich interessiert er sich weder für den Mord noch für den Antisemitismus, sondern allein für die Psychologie des Gerüchts. Hinter den Konitzer Ereignissen sieht er keine politischen oder mentalen Konflikte, sondern das Walten von „anthropologischen Konstanten“, die „Grundbedingungen von Ausgrenzung durch Gerüchte und Gewalt sind“. Daher seien die Krawalle nicht etwa mit Antisemitismus zu erklären, sondern durch „Archetypen“ wie die „Minderwertigkeitskomplexe“ oder „das Geltungsbedürfnis, das wir alle haben“.

PETER SCHÖTTLER

Christoph Nonn: „Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich“. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, 248 Seiten, 19,90 €ĽHelmut Walser Smith: „Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt“. Übersetzung von Udo Renner. Wallstein Verlag, Göttingen 2002, 300 Seiten, 29 €