Koloss mit Fistelstimme

Vor 140 Jahren wurde ein preußischer Landadliger für dreißig Jahre zum mächtigsten Politiker in Deutschland: Otto von Bismarck – der Typus des deutschen Machtpolitikers

von CHRISTIAN JANSEN

Am 8. Oktober 1862 übernahm Otto von Bismarck als Ministerpräsident und Außenminister die Macht in Preußen, die er 1867 auf ganz Norddeutschland und vier Jahre darauf auf das neue Deutsche Reich ausdehnte. Bismarcks Ernennung ging ein 22. September voraus, an dem der 65-jährige König Wilhelm I. von Preußen, frustriert über den Widerstand, den die Mehrheit im Abgeordnetenhaus der Aufrüstung und Reorganisation der Armee entgegenbrachte, den als harten Hund bekannten Otto von Bismarck einbestellt hatte.

Der König hatte seine Abdankungsurkunde bereits aufgesetzt. Wäre damals sein Sohn, der vergleichsweise liberale Kronprinz Friedrich, König geworden, so wäre die preußische (und im Gefolge die deutsche) Geschichte wohl bereits in den 1860er-Jahren auf ein liberal-parlamentarisches Gleis geraten. Der deutsche Sonderweg wäre hundert Jahre eher verlassen worden – und Europa viel Unheil erspart geblieben.

Bismarck und der alte König und spätere deutsche Kaiser Wilhelm I. standen für traditionelle, preußische Bodenständigkeit (und Männlichkeit), Kronprinz Friedrich und die liberale Mehrheit im Abgeordnetenhaus hingegen für Modernisierung, Parlamentarisierung und eine stärkere Westorientierung. Bismarck war jedoch nicht nur ein Reaktionär, sondern auch ein akribisch arbeitender, geschickter Politiker mit großer Fortune, dem die entscheidenden Schritte zur ersten deutschen Einigung gelangen.

Wegen seiner überragenden Bedeutung für die deutsche Politik im 19. Jahrhundert wurde Bismarck später zum gottgesandten Retter Deutschlands stilisiert: in pompösen Denkmälern, populären Publikationen wie auch in der Geschichtsschreibung. An diesem bis heute verbreiteten Bild vom charismatischen Übermenschen Bismarck sind jedoch erhebliche Zweifel angebracht.

Ein groß gewachsener, zunehmend korpulenter Mann mit massigem Kopf und Kinn war dieser Bismarck. Äußerlich verkörperte Bismarck die Merkmale landadeliger, bodenständiger Virilität. Ganz bewusst versuchte er, mit ihr zu wirken: Hierzu dienten die Uniform und der Säbel, die er bei allen offiziellen Anlässen trug, der mächtige Schnurrbart, seine Duellforderungen gegen politische Gegner, sein exzessiver Alkoholkonsum und sein Appetit – sowie die beiden Kampfhunde, die den Eisernen Kanzler nicht nur auf vielen Abbildungen symbolhaft flankieren, sondern auch immer vor der Tür seines Arbeitszimmers lagen und Personal, Mitarbeiter und Gäste ängstigten.

Bismarcks Auftreten war äußerst selbstbewusst, schneidig, konfliktfreudig und arrogant. Er galt als schlagfertig, cholerisch und launisch. Der Ministerpräsident und spätere Kanzler verlangte von seinen Untergebenen ein Maß an Selbstverleugnung, das in seiner schon weitgehend bürgerlich geprägten Zeit qualifizierte Mitarbeiter nie länger als ein paar Jahre aufzubringen bereit waren. So konnte Bismarck nie eine Gemeinschaft treu ergebener Mitstreiter – eine Kamarilla, wie sie für charismatische Herrscher charakteristisch ist – an sich binden.

Reihenweise hat der außerordentlich intrigante Bismarck obendrein alle Minister, die sich ihm nicht bedingungslos unterordneten, gemobbt, provoziert und beim Monarchen desavouiert. „Sein Selbstgefühl war, ähnlich wie bei Friedrich dem Großen und Napoleon, mit einer starken Dosis Menschenverachtung gepaart“, charakterisierte der zeitweilige Chef der Reichskanzlei, Christoph von Tiedemann, Bismarcks autoritären Habitus. „Auch der kleinste Angriff reizte ihn zur Gegenwehr, und er war stets bereit, einen Nadelstich mit einem Degenstoß zu vergelten.“

Im vertrauten Kreis konnte Bismarck – anders als in seinen amtlichen oder öffentlichen Auftritten – jovial, umgänglich, rücksichtsvoll, sogar charmant sein. Als fesselnder, wenn auch sehr narzisstischer Unterhalter wurde er im privaten Kreis geschildert. Gesellschaftlichen Ereignissen und auch öffentlichen Ehrungen, wo sein „Zauber“ eine Breitenwirkung hätte entfalten können, ging Bismarck jedoch möglichst aus dem Weg. Er scheute erst recht den Kontakt mit größeren Menschenmengen.

Seit Bismarck 1866 populär geworden war, mied er die Öffentlichkeit noch stärker und bedauerte den Verlust an Anonymität, der mit seiner wachsenden Bekanntheit einherging. „Nichts hat er leichter getragen, wie während der Konfliktszeit der bestgehasste Mann zu sein“, rekapitulierte von Tiedemann. „Um Popularität war ihm nicht zu tun.“ Ein Hauptgrund für Bismarcks Scheu vor öffentlichen Auftritten und ein krasser Widerspruch zur (Selbst-)Inszenierung als mächtiger, soldatischer Mann war seine Stimme.

Hans-Peter Goldberg hat jüngst in seinem Buch „Bismarck und seine Gegner“ den Mythos vom Eisernen Kanzler als großem Rhetor und auratischer Figur destruiert: Bismarck sprach mit hoher, mit Fistelstimme. Wenn er versuchte, mit Emphase zu sprechen, bekam sie einen „scharf schneidenden, nicht eben angenehmen Klang“. Einer der regelmäßig an Bismarck verzweifelnden Reichstagsstenografen beschrieb die Schwierigkeiten, seine Reden aufzuzeichnen: „Aus diesem collosalen Manne“ spreche „eine fast frauenhaft schwache Stimme, die, namentlich wenn er von seinen nervösen Affectionen heimgesucht wird, in jedem Satze ein bis zweimal von einem donnernden Räuspern unterbrochen wird“. Bismarck redete stockend und in komplizierten Satzgefügen.

Quälende Pausen wechselten mit Sätzen, die in einer Geschwindigkeit hervorgestoßen wurden, dass kein Stenograf folgen konnte. Ein anderer Ohrenzeuge berichtete: „Er sucht nach Worten, holt den passenden Ausdruck gleichsam mit Gewalt herbei. Zuweilen zögert er vor dem entscheidenden Wort. Dazwischen räuspert er sich oder greift nach dem Glas, um einen Schluck seiner Wasserkognakmischung zu trinken. Man hat zuweilen den Eindruck, dass er die Bewegung nach dem Glase ausführt, um über das Folgende zu sinnen. Es entstehen Pausen, die fast peinlich wirken.“

Für ein Massenpublikum war diese Redeweise unattraktiv. Bismarcks schwache Stimme und seine Redeweise führten im Reichstag dazu, dass die Abgeordneten sich wie eine „lebendige Mauer“, um seinen Platz versammelten, um seinen Reden folgen zu können. Sie hingen an seinen Lippen, weil er schwer zu verstehen, aber eben über Jahrzehnte der mächtigste Mann in Deutschland war – und nicht weil seine Rhetorik sie elektrisierte.

Wegen seiner keineswegs charismatischen Rhetorik enthalten die Stenographischen Berichte über die Verhandlungen des Reichstags keine originalgetreue Wiedergabe von Bismarcks Reden, obwohl nur auf ihn spezialisierte Stenografen eingesetzt wurden, seitdem sich der mächtige Mann mehrfach über angeblich bewusste Verfälschungen beschwert hatte. Die Reichstagsprotokolle sind (nicht allein bei Bismarck, aber hier in besonderem Maße) Produkte einer sorgfältigen, nachträglichen Überarbeitung und Stilisierung.

Leider fehlen systematische Presseanalysen zum Bismarckbild. Dies ist umso bedauerlicher, als Bismarck dafür berühmt war, mit hohem finanziellem Aufwand die Presse zu bearbeiten. Nichts sei ihm „zu klein, nichts zu weit abgelegen“ gewesen, „um es unbesprochen, unerwidert zu lassen“, berichtete Ludwig Bamberger, Revolutionär der Zeit von 1848, der eine Zeit lang selbst in Bismarcks Propagandamaschine gearbeitet hat. Bamberger nannte Bismarck einen „Virtuosen in der Kunst der Menschenbeherrschung“.

Auch wenn seine politisch-moralischen Maximen aus dem frühen 19. Jahrhundert stammten, war Bismarck ein eminent moderner Politiker. Denn er erkannte, dass die Presse in der Frühphase einer Politik, die sich demokratisch legitimieren musste, eines der wichtigsten Herrschaftsinstrumente war. Der Mythos vom großen Redner Bismarck ließ sich freilich nur begründen, weil es seinerzeit zwar gedruckte Presse gab, aber noch keine Tonaufzeichnung. Ein einziger O-Ton hätte die Legende womöglich zerstört!

In seinen Reden und vor allem in seiner Autobiografie gab sich Bismarck gerne als Verkünder einer vormodernen Pflichtethik: Als Diener bezeichnete er sich, als wichtigsten Vasallen der preußischen Krone. Neben solchen traditionsbewussten Selbstinszenierungen finden sich in Bismarcks Selbstzeugnissen Elemente eines modernen, rationalen Herrschertyps – etwa wenn er seine politische Flexibilität, seine Inkonsequenz betonte.

Dieses Verständnis von Politik als rationalem Kalkül bildet auch den Kern von Bismarcks viel zitiertem politischen Realismus. Wenn er immer wieder Politik als „Schifffahrt in unbekannten Meeren“ oder Wanderung in einem fremden Wald bezeichnete, so liegt darin keine Stilisierung zum Charismatiker, der ja den Weg zu kennen vorgibt und deshalb Gefolgschaft verlangt, sondern eine bodenständige, an handwerklichen Tugenden orientierte Selbstsicht. Bismarck verstand Politik als die Kunst, mit vielen Unbekannten zu rechnen, um die Macht seines Monarchen oder, wie Bismarck später dem Zeitgeist zuliebe sagte, die Macht des Vaterlandes zu mehren.

Liberale und demokratische Nationalisten misstrauten Bismarck zutiefst – und zwar in erster Linie, weil er kein Nationalist war. Die liberale Bewegung, deren dominante Strömung einen Krieg mit Österreich und Frankreich als notwendige Voraussetzung für die Einigung Deutschlands ansah, warf Bismarck anfangs eine zu friedliche Politik vor. Im Abgeordnetenhaus gab es eine bezeichnende Kontroverse, als sich der Achtundvierzigerrevolutionär Wilhelm Löwe über Bismarcks berühmte Formel mokierte, die großen politischen Fragen würden „durch Eisen und Blut“ entschieden: Bei Bismarck sei dies nur eine „Redensart“.

Die bürgerliche Linke hingegen sei wahrhaft kriegs- und opferbereit. Erst seit 1866 wurde Bismarck von einem Teil des Liberalismus, den späteren Nationalliberalen, als Bündnispartner entdeckt. Aber die Argumente für diesen Sinneswandel waren ausschließlich rational, strategisch oder taktisch und hoben keineswegs auf eine besondere Aura Bismarcks ab. Es wurden Bismarcks Entschlossenheit, Geschicklichkeit, Intelligenz und immer wieder sein Realismus gepriesen. Kein Liberaler stilisierte ihn zu einem gottbegnadeten Politiker, der sein Gegenüber durch Ausstrahlung fessele und dem man blind vertrauen könne. Bei aller Anerkennung und Bewunderung für Bismarcks Politik kritisierten die Nationalliberalen ihn aber auch in der Phase, in der sie seine wichtigste parlamentarische Basis bildeten (1867 bis 1875), immer wieder scharf.

Ihnen missfiel vor allem der Angelpunkt von Bismarcks politischem Selbstverständnis: seine ideologische Inkonsequenz. Bismarck sei unfähig zu kontinuierlicher Politik im Sinne der liberalen Ideen. Gustav Freytag apostrohierte ihn als „kohlbauenden Genius von Varzin“ (nach dem Landsitz, auf den sich Bismarck zurückzuziehen pflegte) und versuchte die „Bowle seines Wesens“, also dessen mangelnde Homogenität, zu veranschaulichen als „Mischung von Leichtsinn und weitblickender Schlauheit, von rohem Eigenwillen und elastischer Biegsamkeit. Glücklicherweise hat er zwei deutsche Eigenschaften: ein Bedürfnis nach gemütlichen Verhältnissen – die er sich doch immer wieder zu ruinieren sucht – und eine Sentimentalität, die allerdings zuweilen der des heulenden Wolfes gleicht.“

Wie in der Beobachtung des Schriftstellers beherrschten generell jene Nachrufe das Bismarckbild, die Bodenständigkeit suggerierten. Neben der Charakterisierung als Bauer finden sich häufig die als Deichgraf und Vergleiche mit Handwerksmeistern.

Assoziationen des Luftigen, Lichthaften oder Göttlichen sind hingegen rar. 1866 soll Bismarck sich einmal, kurz nachdem ein Attentat auf ihn fehlgeschlagen war, als Gottes „auserwähltes Rüstzeug“ bezeichnet haben. Aber eine derartige religiöse Überhöhung blieb singulär.

Zudem ist auch die Formel, mit der Bismarck seine Auserwähltheit beschrieben haben soll, von eigentümlicher Gebrochenheit. Denn ein Charismatiker hätte sich als Werkzeug Gottes bezeichnet. Bismarcks Selbstsicht als „Rüstzeug“ ist hingegen eine pietistische Zurücknahme eigen. Alles in allem war Bismarck ein selbst- und machtbewusster, strategisch kluger, eminent fleißiger, autoritärer Politiker, der – obwohl tief in dem vom Konservativismus des 19. Jahrhunderts entworfenen Bild der Vormoderne verwurzelt – es als einer der ersten Staatsmänner verstand, sich moderner Herrschaftstechniken zu bedienen.

Moderne Herrschaftstechniken? Die historische Forschung hat Bismarck im Gegenteil zu einem Übermenschen stilisiert und dabei die außergewöhnlichen politischen Bedingungen, die seine Erfolge ermöglichten, klein geredet: erstens einen alten, zur Resignation neigenden Monarchen, zweitens einen gebrochenen Liberalismus, der Bismarcks strategischem Kalkül keine realisierbare Alternative entgegensetzen konnte, drittens schwache, uneinige und zaudernde Gegenspieler innerhalb des Deutschen Bundes, viertens die Unterdrückungsinstrumente, mit denen er seine Gegner einschüchterte, und fünftens „außerordentlich viel Glück“, wie es Bismarck selbst formulierte.

Bismarck gleicht viel eher Helmut Kohl, der auch, ohne charismatisch zu sein, historische Weichenstellungen beeinflusst hat, als den Charismatikern des 20. Jahrhunderts wie etwa Hitler oder Mussolini. Erst am Ende der Bismarckära beginnt die Stilisierung zu einem Führer der deutschen Nation.

Sie findet sich vornehmlich in didaktisch aufbereiteten, volkspädagogischen Schriften, die sich an die Jugend oder ans breite Publikum richteten. Die Funktion der seit den späten Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts einsetzenden Überhöhung Bismarcks als Heiliger oder Prophet lag vor allem darin, einen Bismarckmythos dem real existierenden Bismarckreich entgegenzuhalten, also Bismarcks angebliche Ziele und Werte einer materialistischen und sich in Alltäglichkeiten verlierenden Gegenwart vorzuhalten.

Diese Ansätze zu Bismarcks Lebzeiten, ihn zum Charismatiker zu stilisieren, waren die Keime, aus denen sich seit seinem Tode ein von Krise zu Krise gesteigerter Bismarckmythos entwickelte. Die Umdeutung Bismarcks seit der Jahrhundertwende steht im Kontext einer europaweiten Tendenz zu neuer politischer Religiosität, die wachsende Sehnsucht – gerade der bürgerlichen Eliten – nach autoritären Führern erzeugte.

Die Stilisierung Bismarcks zu einem gottgesandten Führer der Deutschen hatte mit seiner Persönlichkeit und seiner durch und durch kalkulierten Herrschaftstechnik letztendlich nichts zu tun. Er war vielmehr ein typischer Machtpolitiker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Epoche charismatischer Herrschaft begann erst im 20. Jahrhundert mit seinen neuen, audiovisuellen Massenmedien.

CHRISTIAN JANSEN, 46, lehrt an der Ruhr-Universität Bochum Neuere und Neueste Geschichte. Sein Beitrag basiert auf einem Vortrag bei einer Tagung der Friedrich-Ebert-Gedenkstätte (Heidelberg) über „Charismatische Führer der deutschen Nation“