Ist Amerika das neue Rom?

Die antike Supermacht ging zugrunde, weil die friedliche Ansiedlung der Germanen misslang. Werden auch die USA, in denen seit dem 11. September die Furcht vor den Barbaren grassiert, dieses Schicksal teilen? Oder stehen sie erst am Beginn weltweiter Vorherrschaft? Ein Vergleich zweier Imperien, die konkurrenzlos in der Weltgeschichte sind

von RALPH BOLLMANN

Was für eine Heuchelei!, haben wir in der Lateinstunde gedacht. Immer nur mussten sich die Römer gegen Angriffe zur Wehr setzen. Erst von konkurrierenden Städten in den Krieg gezwungen, dann von den Karthagern, schließlich von Galliern und Germanen. Eines Tages stellten sie verdutzt fest, dass sie sich ein Weltreich zusammenverteidigt hatten – ohne jede Absicht, wenn man den Quellen glaubt.

Heute verstehen wir die Römer besser. George W. Bush mochte den Amerikanern im Wahlkampf noch so sehr versprechen, sich aus fernen Konflikten heraushalten zu wollen. Am Ende musste er wie die antiken Staatsmänner einsehen, dass sich die einzige Supermacht aus den Krisen an der Peripherie nicht heraushalten kann – trotz aller Vorsätze, Afghanistan, Palästina oder Europa künftig sich selbst zu überlassen.

Im alten Rom wie im heutigen Amerika war es ein einzelnes Ereignis, das eine Politik der militärischen Stärke so zwingend erscheinen ließ. Was für die Amerikaner der 11. September, war für die Römer das Jahr 387 vor Christus: Die Verwüstung der Stadt durch marodierende Gallier hinterließ ein Trauma. Anders als dem US-Geheimdienst war es den Gänsen auf dem Kapitolshügel allerdings gelungen, die Stadtbevölkerung durch lautes Schnattern vor dem Anschlag zu warnen.

Bei den Römern dauerte es immerhin acht Jahrhunderte, bis die Barbaren erneut ins Herz des Imperiums vordringen konnten. Am 24. August des Jahres 410 nach Christus stürmten die Westgoten mit ihrem König Alarich die Ewige Stadt, die den Zenit ihrer Macht längst überschritten hatte. Für Zeitgenossen wie für Chronisten war es das Zeichen, dass die Tage Roms endgültig gezählt waren.

Sind auch die USA bereits im Niedergang begriffen, wie manch ein Beobachter gleich nach dem 11. September meinte? Oder stehen sie erst am Anfang einer langen Phase weltweiter Vorherrschaft, die mit dem Untergang der Sowjetunion vor einem Jahrzehnt begann – ganz ähnlich, wie die Römer nach dem Untergang Karthagos keine Konkurrenz mehr fürchten mussten?

Die Debatte, die in Amerika schon seit einem Jahrzehnt geführt wird, hat sich seit den Terroranschlägen des vergangenen Jahres noch einmal zugespitzt. Überraschenderweise sind die Stimmen, die einen baldigen Niedergang prophezeien, seit dem traumatischen Angriff auf das amerikanische Selbstbewusstsein nicht lauter, sondern leiser geworden. Der Historiker Paul Kennedy beispielsweise, der in seinem oft zitierten Buch über „Aufstieg und Fall der großen Mächte“ den Niedergang der Weltmacht vorausgesagt hatte, will davon heute nichts mehr wissen. Ein wenig gequält stellt er fest, die USA müssten sich mit ihrer Macht eben abfinden. Dem Land bleibe „nichts anderes übrig, als zu sein, wie es ist“.

Das ist umso erstaunlicher, als kein einziges der in den Neunzigern diagnostizierten Krisensymptome seither verschwunden ist. Im Gegenteil. Die Gefahr einer strategischen „Überdehnung“ durch Militäreinsätze in aller Welt, die irgendwann die finanziellen Möglichkeiten auch der reichsten Nation übersteigen, ist durch die Kriege in Afghanistan und womöglich bald im Irak realer denn je. Und die notorischen Kulturpessimisten, die sich über die angebliche Dekadenz der westlichen Zivilisation beklagen, fänden heutzutage mehr Argumente denn je zuvor – von der Allgegenwart der Unterhaltungsindustrie bis zu den Bilanzfälschungen amerikanischer Konzerne.

Je entwickelter eine Kultur, desto lauter die Kritik an der eigenen „Dekadenz“: Diese Grundregel galt auch im alten Rom. Schon Cicero (106–43 v. Chr.) beklagte in seinen großen Reden den Verfall der Sitten, und anderthalb Jahrhunderte später konfrontierte Tacitus (56/57–117 n. Chr.) seine Landsleute mit den vorbildlich unverdorbenen Germanen. Fast alle Krisenzeichen, die Tacitus beklagte, lassen sich auch heute notieren. Beruhigend daran ist: Das angeblich so dekadente Römerreich hatte nach dem Tod Tacitus’ noch 360 Jahre Bestand.

Dieses Faktum hielt Nachgeborene freilich nicht davon ab, an der These vom Verfall der Sitten als Ursache für den Untergang Roms festzuhalten. Selbst Friedrich Engels führte das Ende des Reichs nicht auf Klassenkämpfe zurück, sondern auf die „Versumpfung einer untergehenden Zivilisation“. Unter Historikern aber war die Dekadenztheorie immer nur eine von vielen Erklärungen – und nicht einmal die triftigste.

Mindestens vierhundert Gelehrte, zählt der Berliner Althistoriker Alexander Demandt, haben sich bis heute eine Deutung für den Abstieg des Imperiums zurechtgezimmert – und nicht weniger als 210 Faktoren für den Niedergang verantwortlich gemacht, von A wie „Aberglaube“ bis Z wie „Zweifrontenkrieg“. Selbst das Badewesen oder das bleihaltige Trinkwasser galt manchem Interpreten als fatal, andere verorteten die Ursache des Verhängnisses in der Feinschmeckerei oder der Emanzipation der Frauen.

Die Debatte über eine der größten Streitfragen der Geschichtswissenschaft führt zu den immer wieder gleichen Fragen: Warum hielt das „Imperium Romanum“ nach Jahrhunderten unbestrittener Vorherrschaft dem Ansturm der Germanen nicht mehr stand? Warum fiel es einem antiken „Kampf der Kulturen“ zum Opfer, obwohl die „Barbaren“ aus dem Norden eigentlich gar keine ebenbürtigen Gegner waren?

Von diesen bärtigen Männern aus einer fernen Weltregion, von denen man so wenig wusste, waren die Römer gleichermaßen fasziniert wie abgestoßen. Sie fürchteten die Barbarei und sehnten sie zugleich herbei. Einerseits grauste es Tacitus, den Peter Scholl-Latour jener Tage, vor den wilden Germanen, die zu viel tranken und zu schlecht aßen. Aber gleichzeitig pries er sie als Vorbild unverdorbener Natürlichkeit und rühmte die „wohl behütete Sittsamkeit“ ihrer Frauen, die „nicht durch lüsterne Schauspiele, nicht durch aufreizende Gelage“ verführt würden.

In den Jahrhunderten nach Tacitus nahm dieses Gefühl der Fremdheit immer mehr ab. Das „freie“ Germanien wurde von den Produkten der römischen Zivilisation durchdrungen, die Germanen selbst fanden den Weg bis ins Zentrum des Reichs. Dass ihre friedliche Integration trotz viel versprechender Anfänge schließlich misslang, sehen die meisten Historiker heute als Hauptgrund für den Untergang des Imperiums. So versäumten die Römer, meint Demandt, die Germanen auf jenen Äckern anzusiedeln, die wegen der Agrarkrise im spätantiken Reich ohnehin brachlagen. Ihrer Assimilationswilligkeit wegen hätten die Germanen „weiter als geschehen ins Reich hineinwachsen können“.

Lange galt die germanische Völkerwanderung, die das Römische Reich zum Einsturz brachte, als Thema für Spezialisten. Das hat sich durch die bundesdeutsche Zuwanderungsdebatte gründlich geändert. Im Frühjahr sendete das ZDF eine ganze Serie über diese spätantike Migrationsbewegung. Wie alle Einwanderer der Geschichte, hieß es da, hätten auch die Germanen schlicht „auf ein besseres Leben“ gehofft. Um „Teilhabe“ sei es ihnen gegangen, um die Integration in ein Gesellschaftssystem, „das kulturell höher entwickelt war, mehr Wohlstand und Frieden sowie bessere medizinische Versorgung versprach als das ihre“.

Jahrhundertelang hatte das Römische Reich eine erstaunliche Fähigkeit bewiesen, diese Bedürfnisse zu befriedigen – und Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen und Religionen zu integrieren. Auch die Dominanz der Amerikaner beruht nur zum kleineren Teil auf unmittelbarer politischer Herrschaft oder militärischer Gewalt – anders als der kurzlebige europäische Imperialismus des 19. Jahrhunderts. Viel wichtiger sind, wie im alten Rom, die ökonomische Durchdringung der Peripherie und die kulturelle Anziehungskraft der eigenen Zivilisation.

Nur so konnte zum ersten Mal seit der Antike ein Imperium entstehen, das – so der italienische Theoretiker Toni Negri – „kein Außerhalb mehr kennt“. Dieses Imperium noch als „römisch“ oder „amerikanisch“ zu bezeichnen ist fast eine unzulässige Vereinfachung: Für Negri ist „der Ort, von dem imperiale Herrschaft heute ausgeht, ein Nichtort“.

In den Jahrhunderten der Pax Romana gab es kaum Versuche, aus diesem Imperium auszubrechen. Bis in die entlegensten Provinzen waren die Menschen offenbar der Meinung, dass ihnen die Zugehörigkeit zum Imperium mehr nützt als schadet. Die verlässliche Versorgung mit Getreide und Wein, eine schicke Toga oder die Zerstreuung im Theater – das alles hatte in der Antike eine ähnliche Anziehungskraft wie heute McDonald’s oder Coca-Cola, Levi’s oder Hollywood.

Aber es ging nicht nur um materiellen Wohlstand. Die Überlegenheit römischer Wissenschaft kam ebenso hinzu wie relativ große Freiheit in der persönlichen Lebensführung, von der Sklaven und Frauen freilich ausgeschlossen blieben. Auch das Lateinische als Lingua franca des westlichen Mittelmeerraums verstärkte die Integrationskraft des Imperiums – nicht anders als heute das Englische.

Wie die Pax Americana, so war allerdings auch die Pax Romana ein zwiespältiger Begriff. Neben dem Lob des Friedens und Wohlstands enthielt er immer auch Kritik an der Unterdrückung der Peripherie, die mit einer solchen Weltordnung verbunden ist. Der amerikanische Präsident, dessen Politik für die gesamte Welt so folgenreich ist, wird nur von einem winzigen Teil der Weltbevölkerung gewählt. Und die römische Politik orientierte sich in erster Linie an den Interessen der Hauptstadt, deren Einwohner zunächst als Einzige volles Bürgerrecht besaßen. „Civis Romanus sum“: Dieser Status verschaffte einem Bürger eine privilegierte Stellung. Dass sich sein Inhaber einer fremden Rechtsordnung unterwerfen könnte, war unvorstellbar – ebenso unvorstellbar wie für die USA die Idee, ein internationales Gericht könnte über amerikanische Staatsbürger urteilen.

Im alten Rom freilich wurde dieses Bürgerrecht im Laufe der Zeit auf immer weitere Teile des Imperiums ausgedehnt. Bis auf die Sklaven kamen am Ende praktisch alle Reichsbewohner in seinen Genuss. Auch dies trug dazu bei, dass die Integration der „Barbaren“ zunächst zu gelingen schien. Immer mehr Germanen dienten im römischen Heer. Einigen von ihnen gelang der gesellschaftliche Aufstieg: Seit Kaiser Diokletian (284–305) stand den Germanen die Offizierslaufbahn offen, seit Kaiser Konstantin (306–337) konnten sie sogar Konsuln werden. Dass ein Barbar auch den Kaiserthron erklimmen würde, war „nur eine Sache der Zeit“ (Demandt).

Unter den Römern selbst war die Zuwanderungsfrage durchaus umstritten. Die Integrationsbereitschaft hatte auch im liberalen römischen System ihre Grenzen. Doch die Reichsfremden waren als Sklaven wie als Söldner längst unentbehrlich. Der in Senatoren- und kirchlichen Kreisen verbreitete Widerwille gegen den Barbaren habe daher „keine Grundlage für eine erfolgreiche Politik“ (Demandt) sein können.

Entscheidend für die Integrationskraft der amerikanischen Zivilisation ist die Tatsache, dass die USA – anders als die früheren europäischen Kolonialmächte – selbst eine Gesellschaft von Einwanderern sind. Wie in den USA war das Einzige, was in Rom Bürgern abverlangt wurde, Loyalität gegenüber dem Imperium und seinen Symbolen. Die Verehrung des göttlichen Cäsaren diente wie der Kult ums Sternenbanner der politischen Integration einer heterogenen Gesellschaft. Erst das Auftreten einer fundamentalistischen Religionsgemeinschaft – der Christen – stellte den Konsens multikulturellen Zusammenlebens in Frage: Die Christen lehnten den Kult um den Kaiser strikt ab.

Im Aufkommen des Christentums sah der britische Historiker Edward Gibbon die Ursache für den Untergang Roms. Die Intoleranz der Christen gegenüber Andersgläubigen habe die viel gerühmte Integrationskraft der römischen Kultur entscheidend geschwächt. „Ich habe den Triumph der Barbarei und der Religion beschrieben“, fasste Gibbon sein sechsbändiges Werk über „Verfall und Untergang des Römischen Reichs“ zusammen.

Aber der Fehlschlag der römischen Zuwanderungs- und Integrationspolitik ging einher mit einem scheinbar unauflösbaren Reformstau in vielen anderen Bereichen. Eine Neustrukturierung des kriselnden Agrarsektors war ebenso überfällig wie eine Reform des Heeres, in dem die (träge gewordenen) Römer nicht mehr dienen wollten. Das Militärbudget trieb die Steuerquote in eine Höhe, die ökonomisch kaum noch vertretbar war – und die aufwändige Steuerverwaltung blähte wiederum den überbesetzten Staatsapparat auf.

Immer weniger gelang es dem Imperium, Krisen zu meistern. Hinter den antikisierenden Säulen der Regierungsgebäude in Washington hat man aber die Lektion aus der mangelhaften römischen Politik gelernt. Jedenfalls wurde die US-Regierung nach dem 11. September nicht müde, zu betonen, beim Krieg gegen den Terrorismus gehe es nicht um den „Kampf der Kulturen“.

Die Europäer spielen im amerikanischen System eine ähnliche Rolle wie die Griechen der Antike. In kleinste Einheiten zerfallen, hatten sie ihre politische Führungsrolle in stetem Zwist verspielt und am Ende das Eingreifen der Supermacht provoziert. Fortan lebten sie im Schatten der Weltgeschichte und blickten als Angehörige der älteren Kultur auf die vermeintliche Grobschlächtigkeit der neuen Weltherrscher herab.

Dabei übersahen sie, dass das Imperium ihre Errungenschaften weitertrug. Von griechischen Kunstwerken kennen wir meist nur die römischen Kopien, griechische Philosophie ist uns durch römische Überlieferung vertraut. Und von abendländischer Kultur wäre wenig übrig, hätten die USA den europäischen Geistesgrößen im vorigen Jahrhundert nicht Asyl geboten.

Die multipolaren Staatensysteme der Weltgeschichte brachten eine schier endlose Abfolge von Kriegen und Krisen hervor. Die Vormachtstellung einer einzigen Großmacht mit klar definierten Interessen dagegen ermöglichte schon im alten Rom Frieden und Wohlstand für (fast) alle, und sie kann es auch heute tun. Vorausgesetzt, das Imperium vermittelt auch den Bewohnern der Peripherie das Gefühl, dass ihnen diese Weltordnung mehr Vor- als Nachteile beschert.

Gerade die wirtschaftlichen Interessen, die amerikanische Unternehmen in allen Teilen der Welt verfolgen, leisten einen wichtigen Beitrag zur Begrenzung von Kriegen. Nicht zufällig begannen die Nationalsozialisten ihren Weltkrieg mit der ökonomischen Abschottung des Deutschen Reichs. Handel und Großkapital galten ihnen als Symbole einer Weltverschwörung. Sie wussten: Handel und Krieg vertragen sich schlecht.

Alle historische Erfahrung zeigt: Auch eine noch so kluge Politik kann den Untergang eines Imperiums nicht für alle Zeiten verhindern. Töricht wäre es allerdings, ihn auch noch zu beschleunigen – wie die Kritiker amerikanischer Dominanz verlangen, die sich neuerdings „Globalisierungskritiker“ nennen. Um den Niedergang so lange wie möglich hinauszuschieben, müssen sich beide Seiten integrativ zeigen – das Zentrum wie die Peripherie.

Sie haben daran ein vitales Interesse. Denn die Auflösung des Römischen Reichs, die durschlagendste Entglobalisierung der Weltgeschichte, führte zu einem beispiellosen Prozess wirtschaftlichen und kulturellen Verfalls. Rund ein Jahrtausend hat es gedauert, bis die Europäer das Niveau der antiken Zivilisation wieder annähernd erreicht hatten. Der Untergang des Imperiums machte am Ende alle zu Verlierern. Nicht nur die Römer büßten ein, was sie so beharrlich verteidigen wollten. Auch die Germanen hatten zerstört, worauf sie es eigentlich abgesehen hatten.

RALPH BOLLMANN, 33, taz-Redakteur, studierte Geschichte in Tübingen, Bologna und Berlin