Mit offenem „Visier“

Merkwürdige Zeitschriften (1): Die Klientel des Waffenmagazins „Visier“ ist durch Erfurt in Verruf geraten. Doch sie kontert: „Ich bin die Waffenlobby!“

von MATTHIAS THIEME

Normalerweise scheint die Leserschaft von Visier – Das internationale Waffenmagazin eher scheu zu sein. Verschämt schleicht der Visier-Leser in den örtlichen Bahnhofskiosk, steuert das Zeitschriftenregal neben den schmuddeligen Erotiktiteln an, ignoriert Dicke Busen Spezial und greift in Bodennähe nach dem Hochglanzprodukt mit der brandaktuellen Titelgeschichte über die „Volkssturm-Waffen“. Bückware ist wohl der richtige Ausdruck für das Heft, das man sich lieber nicht vom Dorfbriefträger zustellen lassen möchte. „Ab sofort erhalten Abonnenten ihr Heft in einer undurchsichtigen Folie verpackt“, verspricht eine Eigenanzeige im Augustheft. Vielleicht hilft das ja. Sonst lockt bestimmt die schnittige „Doppel-Gewehrtasche“ mit der „praktischen Außentasche für Munition“ oder der handliche „Kurzwaffen-Koffer“ mit „Montageplatte zur einfachen Befestigung im Auto“.

Totalentwaffnung droht

Doch vielleicht braucht es bald keine Geschenke zur Überwindung der Schamgrenze mehr, denn es geht ein Ruck durch die Leserschaft. Alle Scheu wird fahren gelassen und die Visier-Leser outen sich: „Ich bin die Waffenlobby!“, bekennen sie mutig mit Namen und Foto, abgedruckt auf gleich drei Doppelseiten des Magazins. Welche Kühnheit, welch Befreiung nach jahrelangem Buckeln und Bücken in trostlosen Bahnhofskiosken. „Ich bin die Waffenlobby! Wir sind viele. Wir gehen wählen. Und das ist gut so“, steht auf Aufklebern und T- Shirts. Der Grund: Die friedlichen Waffenliebhaber fühlen sich nach dem Amoklauf von Erfurt diskriminiert und fürchten nach der Novellierung des Waffengesetzes um ihr „Hobby“. Im Editorial entwirft Visier-Chefredakteur David Th. Schiller ein düsteres Bild der Lage. Nach Erfurt seien „mühselig aufgebaute Schießsportdisziplinen“ in Gefahr, ja, es habe gar eine schreckliche „Totalentwaffnung“ gedroht. Dieser Gefahr tritt Visier mit offenem Visier und Schulter an Schulter mit seiner Leserschaft couragiert entgegen und gibt mit der Aktion „Wir sind die Waffenlobby“ die einzig „richtige Antwort auf all die diffamierenden Äußerungen von Medien und Politik“.

Am Massenouting beteiligen sich durchweg ehrbare, unbescholtene Bürger: Ruben Kürzdörfer zum Beispiel ist „überzeugter Christ“ und christlicher „Waffen- und Patronensammler“. Ein Professor für Anorganische Chemie hat sich „zwei wohlgeratene Söhne“ herangezogen und hält „viel vom erzieherischen Wert des Schießsports“. Auch der evangelische Pfarrer Gert Flessing, abgebildet in Berufskleidung, findet Waffenbesitz „eine Selbstverständlichkeit in einer freien Gesellschaft mündiger Bürger“, und EDV-Spezialist Klaus Spiekerkötter ist „seit 33 Jahren mit der gleichen Frau verheiratet, 53 Jahre ohne Eintrag im Bundeszentralregister und ohne Eintrag in Flensburg“ und bekennt: „Ich bin Demokrat und deshalb wehre ich mich.“

Die Wut ist groß, die Entschlossenheit fast volkssturmhaft, so dass Berufsschullehrer Meiko Balthasar sogar zum „Kanzlersturz“ aufruft und seine „Schützenkameraden“ auffordert „für ihre Rechte einzutreten und zu kämpfen und deshalb am 22. September FDP zu wählen!“

Bei all der Aufregung drohen dabei die schönen wichtigen Texte im Heft, die in klangvollen Rubriken wie „Pulver und Blei“ oder „Hieb und Stich“ abgehandelt werden, fast unterzugehen.

Sehr informativ etwa die Reportage über die „Faust in der Tasche“, eine Selbstladepistole, die sich bestimmt viele wütende Visier-Leser wünschen, und ein Text über eine „Alljagds Take-Down-Büchse“. Dieser „Schießprügel“, das ist jedem Leser sofort glasklar, ist keine „Plempe“, sondern eine veritable Jagdwaffe, die „sich an gutsituierte Auslandsjäger“ – nun ja, wer schießen kann, muss nicht auch noch schreiben können – „wendet“. Hat die Waffe sich an einen Auslandsjäger gewandt, ist dieser „für jedes Wild gerüstet“, sollte aber „die Jagdwaffe im normalen verschließbaren Hartschalenkoffer gemeinsam mit der Wäsche unterbringen“. Dann, nur dann, kann der finanziell unbesorgte (die Büchse kostet 10.724 Euro) wettergegerbte Hartschalenjäger gefahrlos den Auslandshirsch abknallen, beziehungsweise „unserer hektischen, überbevölkerten Stadtkultur“ entfliehen.

Treue Flinte

Visier wird monatlich im schönen Bad Ems in einer Auflage von ca. 85.000 Exemplaren produziert, kostet 4,60 Euro, gehört zur Vogt-Schild Deutschland GmbH und bietet sowohl Platz für die Anzeigen der diskriminierten Waffenindustrie („Die Sportflinte die Ihnen treu bleibt“) als auch für die Kleinanzeigen-Irren, die „deutsche Wehrmachtsfunkgeräte, Reservistenkrüge“ und überhaupt „alles Militärische“ kaufen. Das Magazin Visier weist Waffenfetischisten den Weg bis zum finalen Rettungsschuss in den eigenen Kopf – eine durchweg ehrenvolle journalistische Aufgabe.