Hoch über heißer Nordseeküste

Sommer für Sommer werden die Tiere an Schleswig-Holsteins Küste gezählt. Auch die Brandgans wird registriert – auf dass es ihr in diesem Ökotop nicht schlecht gehe. Für diese Arbeit über den Watten braucht es mutige Flieger. Eine Reportage

von TEMENUGA VELEVA

Pilot Clemens Frohmann schaltet beide Propeller ein, die unter den Flügeln des kleinen, zweimotorigen Flugzeugs hängen. Er und die drei anderen Männer im engen Flugzeug setzen ihre Kopfhörer auf. Ohne sie könnte man sich nur mit Gesten verständigen. Es ist unerträglich laut. „Alle angeschnallt?“ Der Pilot wirft einen knappen Blick nach hinten. „Der Flieger voll und draußen eine Hitze, da brauchen wir sehr viel Sprit, um hochzukommen.“

Heftig wird das Propellergeräusch stärker. Die Maschine hebt langsam vom Sylter Flugplatz ab. Mittag am heißesten Tag des Jahres. Winzige schwarze Gewitterfliegen kleben einem an Hals und Armen. Es juckt, sie machen dich langsam aggressiv. „Bei dem schönen Wetter müsste man sich mit der Tide hoch und runter treiben lassen und nicht im Flugzeug sitzen. Es ist zu schade“, rauscht im Kopfhörer die Stimme von Norbert Kempf, der neben dem Piloten sitzt.

Zum siebten Mal in diesem Sommer fliegt er über das Wattenmeer. Er ist Brandganszähler. Die anderen zwei Passagiere sind Bernd Hälterlein und Ralf Kammann. Sie werden Norbert Kempf bei der Zählung helfen.

Jeden Sommer kommen bis zu 190.000 Brandgänse, etwa neunzig Prozent des nordwesteuropäischen Bestandes, hierher, um sich zu mausern. Ein eindrucksvolles Ereignis nicht nur für Ornithologen. Das Wattenmeer bietet den Vögeln ungestörte weite Flächen mit reicher Nahrung.

Seit Mitte der Achtzigerjahre existiert im südlichen Teil des schleswig-holsteinischen Wattenmeeres die Bohrinsel Mittelplate. Das Ölfeld ist die größte deutsche Erdöllagerstätte – nach bisherigen Erkenntnissen mit über hundert Millionen Tonnen Erdöl –, die zwischen zweitausend und dreitausend Meter tief lagern. 35 Millionen Tonnen gelten als gewinnbar.

Ein paar Monate nachdem der Bau der Bohrinsel begann, wurde im Oktober 1985 der Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer gegründet. Die künstliche Insel fiel in sein Territorium. Natürlich wurden negative Auswirkungen des Ölförderbetriebs und des damit verbundenen Schiffsverkehrs auf die Vogelbestände im Bereich Mittelplate befürchtet. Nur deshalb fühlt sich das Bohrinselkonsortium unter Führung der RWE genötigt, jeden zweiten Sommer Vogelzählflüge zu finanzieren.

Die Nordsee liegt gleich unten. Keine einzige Welle. Das graugrüne Wasser ist klar und ruhig. Richtet man den Blick in die Ferne, lässt sich kein Horizont erkennen. Das Meer ist mit dem milchig graublauen Himmel verschmolzen. Es ist diesig. Sogar die benachbarte Insel Rømø auf der dänischen Seite ist verschwunden.

Die Nordsee hat sich in den letzten zwei Wochen sehr abgekühlt. Und heute diese plötzliche Hitze.“ Nicht gerade optimales Wetter, um Brandgänse zu zählen. An den beiden Tagen zuvor sind die Seehundzählflüge der Kollegen wegen schlechten Wetters ausgefallen.

Und für morgen haben die Meteorologen wieder Gewitter angesagt. Also muss das Beste aus dem Tag gemacht werden.

Die Maschine fliegt in fünfhundert Fuß Höhe – das sind nur einhundertfünfzig Meter – über dem Wasser an der Westseite von Sylt direkt nach Süden zur Elbmündung. Von dort an zählen sie in Richtung Norden – immer über dem Watt und an der Küste entlang.

Die Sonne spiegelt sich in einem großen Kreis tausend tanzender Flecken auf der Wasseroberfläche wider. Leider sind heute keine Schweinswale zu sehen. Mit etwas Glück kann man diese kleinsten Wale Europas bei so ruhiger See beobachten.

Vielleicht verscheucht sie heute das laute Flugzeug. Es dröhnt wie eine riesige Sägemaschine. Als dunkle Flecke auf dem hellgrünen Meeresgrund sind Fadenalgen zu erkennen. Manchmal findet man sie nach einem Sturm am Strand angespült. Sie verbreiten diesen charakteristischen Meeresgeruch, den man vom Urlaub mit nach Hause nimmt.

Es bleibt diesig. Nur nach unten zum Wasser ist die Sicht gut. Rote und grüne Bojen lassen sich hin und wieder erkennen. Selten eine Silbermöwe, die auf Nahrungssuche tief über dem Meer segelt, oder eine andere, die sich mit dem leichten Wasserstrom treiben lässt. Obwohl kaum Wind weht, nutzen viele Segler den sonnigen Tag.

Ralf und Bernd verzeichnen alle schwimmenden Wasserfahrzeuge, ihre genaue Art, Lage und Fahrtrichtung. Die Forscher interessieren sich für deren Auswirkung auf den Lebensraum der Brandgänse, die, anders als die meisten anderen Vögel, während der Mauserzeit alle alten Schwungfedern auf einmal verlieren und vier Wochen flugunfähig und daher schutzlos bleiben.

Sehr empfindlich reagieren sie dann auf die kleinsten Störungen, indem sie sich in absolut ruhige Gebiete zurückziehen. Ihre Fluchtdistanz erhöht sich von zweihundert auf tausend Meter. Eigentlich ist die Brandgans (Tadorna tadorna) eine gänseähnliche große Ente – obwohl das Weibchen und das Männchen gleich gefärbt sind und sie ihre Küken gemeinsam aufziehen, was charakteristisch für Gänse ist.

Die Wattflächen an der Elbmündung liegen trocken. Es ist Ebbe. Richtung Neuwerk fahren auf dem Watt sieben Pferdekarren und bringen Touristen vom Festland auf die Insel. Ein Reiter steht einsam auf halbem Weg. Die Sonne fällt direkt auf das Watt, das jetzt wie Kupfer schimmert.

Norbert weist nach unten: Gerade fächelt ein Kormoran seine ausgebreitenen Flügel, um sie zu trocknen. Ihm fehlt im Unterschied zu anderen Wasservögeln eine wasserabweisende Schicht, was ihm einerseits das Tauchen erleichtert, ihm aber andererseits nur kurze Zeit im Wasser zu bleiben erlaubt.

Viele ganz schmale und breite Priele winden sich durch das Watt. Bei Ebbe fließt hier das Nordseewasser ab und bei Flut wieder zurück. Wie kleine Flüsse sehen die Priele aus. An ihnen entlang möchten die Männer in dem kleinen Flugzeug fliegen, weil sich die Brandgänse hier an den Ufern, weit weg von den Menschen, zu tausenden versammeln.

Auf Norberts Knien liegen mehrere Abschnitte einer detaillierten Karte aufeinander gestapelt. Darauf sind alle bei Ebbe trockenfallenden Wattflächen mit ihren Prielen, Inseln und Halligen in großem Maßstab verzeichnet. Ralf und Bernd haben die gleichen Kopien. „Hier links“, sagt Norbert. Die Zählung der mausernden Brandgänse beginnt.

Abrupt schwenkt der linke Flügel des Fliegers nach unten. An einem Priel und einer Sandbank sind viele weiße Punkte zu erkennen – die Gänse. „Noch näher.“ Der Pilot dreht das Steuer weiter. Das Tableau zeigt beinahe 45 Grad Gefälle. Ralf vermerkt auf seiner Karte „200 B“, B für Brandgänse.

Gleich fliegt die Maschine wieder horizontal. Die Zahl 200 ist geschätzt. Die Zähler haben anhand von Luftfotos das Schätzen geübt. Eine Methode, die sich als ziemlich zuverlässig erwiesen hat. Bei einem ganz großen Schwarm macht Norbert Bilder aus dem Fenster und vermerkt auf der Karte „ca. 4.000 bis 5.000 B“. Zu Hause wird er, den Blick auf das Dia gesenkt, jeden einzelnen Vogel zählen.

Selbst nach fünfzehn Jahren, die Norbert in Nordfriesland verbracht hat, hört man seine schwäbische Herkunft heraus; Akzent und Satzmelodie verraten sie selbst durch die rauschenden Kopfhörer. Auch fehlt ihm die charakteristische norddeutsche Gelassenheit: Die Leute hier gönnen sich in der Regel deutlich mehr Zeit zum Antworten, zum Handeln, zum Entscheiden als anderswo.

Norbert ist das Gegenteil von alledem: Er ist voll Energie, die manchmal als Ungeduld erscheint – so gibt er die Antwort schon, ehe die Frage überhaupt zu Ende gestellt werden konnte. Auch seine Begleiter Bernd und Ralf sind keine echten Nordfriesen. Der eine kommt aus Hamburg, der andere aus dem Rheinland. Für sie ist dieser Job eine gelegentliche Sommerabwechslung. Bernd ist Ornithologe und Ralf Lehrer.

Dem Piloten läuft ein Schweißtröpfchen aus seinem Kopfhörer den Nacken herunter. So heiß wie in diesen Tagen ist es am Wattenmeer selten.

Auf einer Sandbank liegt gleich am Wasser ein Dutzend Seehunde in der Sonne. Sie tanken Vitamin D – wichtig für ihre Knochen. Mit ablaufendem Wasser sind sie immer weiter ans Ufer der Sandbank gerobbt und haben lange, verflochtene Schürfspuren im Sand hinterlassen.

Wieder ein Reiter. Kleine Gruppen von Wattwanderern und ihre weißen Hüte. Etwas weiter bei Cuxhaven ist das Watt schwarz vor Menschen – sie sehen aus wie aufgeregte Ameisen vor ihrem Ameisenhaufen. Manche spazieren, andere sitzen an den Prielen und sonnen sich in bunten Badeanzügen.

Plötzlich sind die Menschen fort, und wieder breiten sich einsame Sandbänke aus. Ihre geschmeidigen Formen und ihre goldbraune Farbe vermitteln eine unendliche Ruhe, als wäre die Zeit stehen geblieben. Die Ufer verschmelzen mit den klaren Pielen.

Auf einmal hört man Norberts aufgeregte Stimme: „Hier sind welche, aber es sind so viele, dass ich nicht weiß, ob ich sie alle in einer Route kriege.“

Das Flugzeug schwenkt nach rechts. „Da sind auch noch welche. Mist! Weiter rechts. Enger die Kurve! Bisschen dichter ans Ufer.“ Die Körper werden in die weichen Sitze gedrückt. „Noch schräger! Wunderbar! Jetzt habe ich sie!“

Der Zähler schießt mehrere Fotos nacheinander, als würde er Models und keine Gänse fotografieren. Unsere Körper werden für den Bruchteil einer Sekunde federleicht. Und sofort wieder schwer. Der Bauch füllt sich mit einem betäubend glücklichen Gefühl. Es ist wie eine Sucht: Man wartet immer ungeduldiger auf die nächste Schleife. Je schärfer sie ist, desto schöner ist es.

Es folgen mehrere steile Kurven. Erst im allerletzten Augenblick lassen sich die Vögel erkennen, fast zu spät. Das Licht ist ungünstig. Wasser und Sand glitzern. Norberts Anweisungen kommen sehr kurzfristig. Dann dreht der Pilot schnell um und überfliegt scharf noch einmal dieselbe Stelle.

Brandganszähler sollten schwindelfrei sein. Es kam schon vor, dass jemand vorzeitig mit gelbem Gesicht irgendwo unterwegs herausgelassen werden musste. „Wenn einer damit anfängt, weiß ich nicht, ob ich mich selbst zurückhalten kann“, gab Ralf vor dem Flug zu. Für alle Fälle ist eine Packung Antibrechtabletten dabei.

Um ihnen diese Art Fliegerei zu erleichtern, halten sie sich alle an ein paar Hilfsregeln: Sie sind gut ausgeschlafen und haben etwas – nicht zu viel! – im Magen, und zum Ausgleich und zur Orientierung suchen die Blicke ab und an während des Fluges den Horizont.

„Hier rechts rein. Und dann wieder raus.“ Hoch und runter schaukelt der Flügel. Mal ist nur der Himmel zu sehen, mal nur das Watt. Und wieder Seehunde. Hunderte. Von oben sehen sie wie viele nebeneinander liegende Nacktschnecken aus. Sie haben die helle Farbe des Sandes. Im gesamten Wattenmeer rechnet man mit knapp 30.000 Tieren.

Ihr Bestand wächst seit dreizehn Jahren stetig, was manche Fischer veranlasst, die Wiedereinführung der Seehundjagd zu fordern. Obwohl Seehunde gesetzlich zum „jagdbaren Wild“ gehören, dürfen seit zwölf Jahren nur kranke Tiere geschossen werden. Diese Schutzmaßnahme haben die drei Wattenmeeranrainer Deutschland, Dänemark und die Niederlande getroffen, nachdem Ende der Achtzigerjahre rund 8.500 Tiere an einem Virus starben.

Das Wasser läuft langsam auf. Der hellblaue Himmel mit den kleinen, weißen Wolkenfetzen spiegelt sich im noch flachen Wasser wider, als flöge man zwischen zwei Himmeln.

„Oh, mein Schädel tut mir weh und mein Popo“, stöhnt Norbert und rückt seine Kopfhörer etwas zurecht. Nach viereinhalb Stunden Flug kleben die Hosen am verschwitzten Körper.

Es ist nicht mehr so diesig wie am Morgen. Rechts liegen Dithmarschen und Nordfriesland. Die ordentlich zugeschnittenen grünen Wiesen und reifen Getreidefelder erscheinen unglaublich bunt, wie ein Flickenteppich, obwohl sie nur Nuancen der Töne Grün und Gelb enthalten. Sie bringen einen zum Aufwachen.

Die Ruhe, die das Wattenmeer mit seinen weichen Formen und Farben ausstrahlt, wo Sandbänke, Wasser und Himmel geschmeidig ineinander übergehen, hat einen dazu gebracht, die Zeit zu vergessen. Das Flugzeug fliegt dieselbe Route zurück – geradewegs nach Norden, nach Sylt.

Die Dünen von Sylt erscheinen auf einmal gebirgig. „Alle angeschnallt?“ Schon kann man einzelne Margeriten unterscheiden. Ein Kaninchen flieht erschrocken in seinen Bau. Am Rand der Landebahn hüpft behäbig eine Krähe mit geöffnetem Schnabel.

Das Propellergeräusch wird schwächer, bis es ganz verfliegt. „Tür auf!“, bittet der Pilot. Doch draußen steht die Luft genauso wie drinnen.

Wieder zu Hause in Hamburg, beginnt für Norbert Kempf die eigentliche Arbeit: die Bilder und Notizen von allen Flügen dieses Sommers zu vergleichen und auszuwerten. Allerdings erwartet er keine Überraschungen – die Brandgänse scheinen sich mit der Zeit an das Ungetüm im Watt zu gewöhnen. Jahr um Jahr verkürzen die Vögel vorsichtig ihre Distanz, die ursprünglich mehrere hundert Meter betragen hat.

TEMENUGA VELEVA, 29, in Sofia zur Theologin ausgebildet, studiert Publizistik in Berlin