Besuch beim Boss


aus Metzingen HENNING KOBER

„Oh, Mama“, Ewa Żak drückt ihre Handflächen ins Gesicht. Genau das sollte nicht passieren. Die schlanke Frau, Mitte 30, in einem roten Kostüm ist mitgekommen, um auf ihre Mutter aufzupassen. Auf Anna Wocka, die nur wenige Meter von ihr entfernt vor Schülern der Metzinger Realschule sitzt und jetzt nicht mehr weitersprechen kann. Zunächst hat die 78-Jährige ruhig und nüchtern erzählt vom Weg ihrer Schwester Josefa durch die Konzentrationslager Auschwitz, Buchenwald, Groß-Rosen und Dachau, aber jetzt, wo sie sich an Sätze wie „Polnische Schweine brauchen keinen Arzt“ erinnert, steigen Tränen auf. „Es tut mir Leid“, wird sie später sagen. Leid, weil es ihr so wichtig war, den Schülern nicht als weinendes Opfer gegenüberzutreten. Sondern zu erzählen, was damals passierte, und auch um zu erfahren, ob es die jungen Deutschen interessiert, was in ihrer Stadt geschah.

Metzingen, eine Kleinstadt am Fuße der Schwäbischen Alb, im Frühjahr 1940: Das Gesicht auf dem Passbild aus dieser Zeit zeigt Anna Wocka, die da noch Gisterek heißt. Ihr Gesicht ist fein geschnitten, lebendige Augen strahlen, sie ist 15. Doch seit letztem Jahr ist Krieg und so wird das junge Mädchen sieben Tage vor ihrem 16. Geburtstag aus ihrer Heimatstadt Oświęcim von der Gestapo unter Aufsicht eines Mitarbeiters der Bekleidungsfirma Hugo Boss nach Schwaben deportiert. Auf der Straße wird sie von Jungen in der HJ-Uniform angespuckt und getreten. Die Arbeitszeiten in der Näherei, wo Uniformen für die NSDAP, die SS und SA geschneidert werden, dauern von sechs Uhr in der Früh bis sechs Uhr am Abend, unterbrochen von einer kurzen Mittagspause.

Das einzige Glück für Anna Wocka ist, dass sie nicht wie andere Zwangsarbeiter im örtlichen Lager wohnen muss. Sie ist im Haus der jungen Maria Speidel untergebracht, deren Mann als Soldat in den Krieg gezogen ist und die sich als Katholikin der christlichen Nächstenliebe verpflichtet fühlt. Eineinhalb Jahre später kommt Anna Wockas große Schwester Josefa nach. Die Eltern haben sich dafür eingesetzt, dass das Mädchen, wenn es in die Ferne muss, wenigstens bei der Schwester ist. Es beginnt eine Geschichte, an deren Ende Josefa Selbstmord begeht und Anna für ihr Leben ein tiefer Schmerz bleibt.

Schöne junge Menschen

„Das Grab meiner Schwester wollte ich noch einmal sehen“, sagt die alte Frau. Sie kämmt sich immer wieder ihre weißen Haare, die Bewegung hat etwas Damenhaftes. Sie hat die Einladung der Stadt Metzingen zu einem Besuch angenommen, weil sie Frieden schließen will mit den quälenden Erinnerungen.

Es ist der zweite Tag des Besuchs in Metzingen im Juni 2002 und auf dem Programm steht eine Betriebsbesichtigung bei der Hugo Boss AG. Lange Zeit hatte sich der Modekonzern gegen alles gewehrt, was Historiker und Journalisten aus der Unternehmensgeschichte ans Licht brachten. Eine von Boss in Auftrag gegebene Studie wurde unter Verschluss gehalten, Anfragen bei der Pressestelle blieben unbeantwortet. Den ehemaligen Zwangsarbeitern wollte das Unternehmen aber doch nicht einen Besuch verwehren. Und so steht jetzt eine ungewohnte Gruppe von etwa 20 alten Frauen und Männern aus Polen, Weißrussland und der Ukraine in der gläsernen Empfangshalle des neuen Verwaltungsgebäudes im Industriegebiet. Schöne junge Menschen, selbst in Boss-Anzügen und bunten Hugo-Hemdblousons, laufen mit überraschtem Blick vorbei. Der technische Leiter führt durch die Produktion. Anna Wocka hält sich an ihre Tochter, sie hört schlecht und sieht nur noch 25 Prozent. Durch die dicken Brillengläser wirken ihre Augen noch fragender. Interessiert begutachtet sie eine Maschine, die Knöpfe an fertige Sakkos näht. „Damals musste ich auch die Knöpfe an die Uniformen annähen“, sagt Anna Wocka. Was mag jetzt in ihrem Kopf vorgehen?

Die Geschicklichkeit ist es, die den Schwestern zum Verhängnis wurde. Weil niemand so zuverlässig den Reichsadler mit dem Hakenkreuz an Uniformen nähen konnte wie Josefa, wollte Hugo Boss sie nicht gehen lassen, als im Dezember 1941 aus dem Elternhaus in Südpolen der Hilferuf kam. Zu dieser Zeit ist die Mutter schwer gestürzt und liegt im Krankenhaus. Der Vater braucht die Hilfe der älteren Schwester bei der Versorgung der zehnköpfigen Familie.

Doch das Nein des Firmengründers Boss ist endgültig, obwohl Anna einen Anspruch auf Urlaub hat, den sie mit ihrer Schwester tauschen will. Die selbstbewusste Josefa lässt sich vom Verbot jedoch nicht beirren, nimmt das kennzeichnende „P“ von ihrer Kleidung und fährt mit dem wenigen gesparten Geld über Wien zu ihrer Familie nach Polen. Im Elternhaus wartet bereits die Gestapo, Josefa kommt für kurze Zeit ins KZ Auschwitz, wird dann verlegt nach Buchenwald, Groß Rosen und Dachau, wo sie schwer misshandelt wird. Verlaust, entkräftet und mit schweren Kopfverletzungen kommt Josefa im März 1943 zurück nach Metzingen, Hugo Boss hat, um die Rückkehr nach Metzingen zu erwirken, seine Parteikontakte spielen lassen. Der dringend notwendige Arztbesuch wird aber nicht gestattet, im Gegenteil: Boss und sein Schwiegersohn Eugen Holy wollen Josefa unverzüglich wieder bei der Arbeit sehen. Drei Monate Aufschub kann sie mit einer Sondergenehmigung erwirken, eine Zeit, in der sie offiziell Maria Speidel im Haushalt hilft, die sie mit Tees und Hausmitteln aufzupäppeln versucht. Anfang Juli helfen alle Ausreden nichts mehr, Josefa muss wieder zur Arbeit bei Boss. Immer noch hat sie jeden Tag, jede Minute starke Kopfschmerzen. Am 5. Juli 1943 schließt sie sich im Haus von Maria Speidel, die verreist ist, ein. Sie dreht den Gasherd auf. Als ihre Schwester sie am Abend findet, ist sie tot.

Was denkt Anna Wocka jetzt, wenn sie an der akkurat gedeckten Kaffeetafel in einem hellen Eckraum des gläsernen Boss-Gebäudes sitzt? Die Servietten liegen sauber gefaltet auf den Tellern mit Hugo-Boss-Emblem, es gibt Erdbeerkuchen, den eine junge Frau aus der Marketingabteilung verteilt. „Es gefällt mir gut, ich bin froh, dass ich hier bin“, sagt Anna Wocka. Der neue Vorstandschef Bruno Sälzer kommt und fängt sichtlich nervös an zu sprechen: „Sie sind zurückgekommen an eine Stätte, an der Sie sehr großes Leid erfahren haben. Dafür möchte ich mich persönlich und im Namen der Hugo Boss AG zutiefst entschuldigen. Ich empfinde es als sehr großes Zeichen Ihrerseits, dass Sie zu uns gekommen sind.“ Erstmals eine offizielle Entschuldigung, hat das eine Bedeutung? Anna Wocka nickt und nippt an ihrem Kaffee. Ein Zeichen von Anerkennung und Respekt.

Handtuch und Duschgel

Die junge Frau aus der Marketingabteilung verteilt Boss-Papiertüten, die jeweils ein weißes Boss-Handtuch und ein Boss-Duschgel enthalten. Am Ausgang schüttelt Vorstandschef Bruno Sälzer allen persönlich die Hand.

Anna Wocka bekam auch eine finanzielle Entschädigung. An der Stiftungsinitiative der Deutschen Wirtschaft hat sich auch die Hugo Boss AG beteiligt. Wenn sich das Unternehmen an die Richtlinien der Stiftung gehalten hat, musste es ein Tausendstel des Jahresumsatzes von 1999 zahlen, das wären rund 752.000 Euro. Anna Wocka hat über die Partnerstiftung „Deutsch-Polnische Aussöhnung“ 75 Prozent ihrer Entschädigung erhalten, umgerechnet waren das ungefähr 750 Euro. Nächstes Frühjahr soll die letzte Rate überwiesen werden. Für jemanden wie Anna Wocka mit rund 240 Euro Rente im Monat ist das nicht wenig, viel ist es aber auch nicht. Nicht für fünf Jahre Zwangsarbeit. Dabei läuft die Verteilung der Gelder in Polen relativ zuverlässig. Die aus Russland angereisten ehemaligen Zwangsarbeiter haben teils weit geringere oder noch keine Entschädigung erhalten.

Mit dem Geld hat sich Anna Wocka die Zähne machen lassen, vielleicht kauft sie auch noch das so dringend benötigte Hörgerät. 1.000 Zloty sollen aber auf jeden Fall unberührt bleiben. „Für eine schwarze Stunde“, sagt Anna Wocka. Das Misstrauen und die Vorsicht hat sie aus den Jahren in Metzingen mitgenommen. „Warum möchten Sie das so genau wissen?“, fragt die Tochter Ewa Żak. „Wir haben nicht viel Geld, das ist richtig, aber wir haben unseren Stolz.“ Stolz ist ein wichtiger Wert für eine Frau mit der Geschichte von Anna Wocka. „Stolz ist das Einzige, was sich bewahren lässt“, sagt sie, die von braunen Altersflecken überzogenen Hände gefaltet.

Vielleicht war es der Stolz, der die Qual, auch nach dem Freitod ihrer Schwester bei Hugo Boss arbeiten zu müssen, erträglich machte. Vielleicht dachte auch Josefa an das Wort Stolz, als sie sich zum Selbstmord als letzte autonome Handlung entschloss.

Ein letztes Mal möchte Anna Wocka das Grab ihrer Schwester auf dem alten Metzinger Friedhof besuchen. Am nächsten Tag reist sie zurück nach Polen, und ob sie noch einmal wiederkommen wird, ist ungewiss, auch wenn der Bürgermeister eine zweite Einladung ausspricht, ihr Herz ist in den Jahren unzuverlässig geworden. Ganz hinten steht unter einem Baum der alte Stein. Frische Blumen auf dem Grab, von der Stadtgärtnerei vor wenigen Tagen neu eingepflanzt. Es steht schon jemand da, eine alte Metzingerin, die jetzt etwas erschrickt und noch mehr, als sie erfährt, wer Frau Wocka ist. Dann erinnert sie sich. „Ich kann mich an Ihre Schwester erinnern, meine Mutter hat ihr damals ein Glas Marmelade zugesteckt, sie sah so schlecht aus, das werde ich nie vergessen, auch wenn ich erst sechs war.“ Anna Wocka hört gespannt zu, bis die Dolmetscherin übersetzt hat. Dann gibt sie der fremden Frau die Hand.