„Wir sind empfindlicher geworden“

Das Bild vom bösen mächtigen Juden existiert in Deutschland 2002 kaum noch. Doch es gibt neue antijüdische Klischees. Ein Gespräch mit dem Soziologen Werner Bergmann über nationale Identität, verborgene Ressentiments und Skandale

Interview STEFAN REINECKE
und EBERHARD SEIDEL

taz: Wie antisemitisch sind die Deutschen – verglichen mit anderen europäischen Ländern?

Werner Bergmann: Seit 1990 gibt es vom American Jewish Committee eine Reihe europaweiter Antisemitismusstudien mit teilweise identischen Fragen. Das Resultat ist recht klar: In Schweden und England sind antisemitische Einstellungen am seltensten, in Deutschland, Österreich und Polen am häufigsten. Dort ist die Zustimmung zu Sätzen wie „Die Juden haben zu viel Macht auf der Welt“ am größten.

Durch die Medien geistert immer wieder die Zahl, dass hierzulande 15 bis 20 Prozent Antisemiten sind. Guido Westerwelle hat das schroff zurückgewiesen. Wer hat Recht?

Die Zahlen sind nicht erfunden, sie sind in dieser Größenordnung in einer ganzen Reihe von Studien ermittelt worden. Westerwelle steht übrigens ganz in der Tradition von Helmut Kohl, der 1986 im Bundestag nichts von den Ergebnissen einer Studie von Alphons Silbermann wissen wollte. Dieser hatte in den Siebzigern eine Untersuchung gemacht, die ergeben hatte, dass 20 Prozent stark antisemitische Einstellungen und weitere 50 Prozent Reste davon aufwiesen. Kohl fand das vollkommen abwegig.

Die Zahlen sind also seriös?

Seriös ja, aber von unterschiedlicher Genauigkeit. Ein großer Teil der Umfragen zum Antisemitismus sind Ad-hoc-Befragungen, etwa wenn Zeitungen demoskopische Institute beauftragen, in wenigen Tagen eine solche Studie anlässlich eines aktuellen Skandals durchzuführen. Das Verfahren ist dann gewöhnlich so: Das Institut fragt eine Reihe von bewährten antisemitischen Statements ab. In manchen Fällen bildet es daraus eine Skala, bei einer bestimmten Zahl von Zustimmungen geht man davon aus, dass eine Person antisemitisch eingestellt ist. Nun fragt sich, wo diese Grenze verläuft. Da ist häufig wenig methodische Reflexion am Werk. Ein geeichtes Antisemitismus-„Thermometer“ kann es nun einmal nicht geben. Wir haben 1987 in unserer Studie – durchgeführt von Allensbach – versucht, differenzierter vorzugehen und die drei Vorurteilsdimensionen: Stereotypen, Antipathie und Diskriminierungsbereitschaft getrennt zu erheben und dann zu kombinieren. Wir wollten erfassen, ob Personen, die negative Stereotypen über Juden haben, damit auch negative Gefühle verbinden oder daraus Diskriminierungen ableiten.

Zum Beispiel?

Jemand kann ein klassisches Stereotyp äußern, etwa: „Die Juden sind hinter dem Geld her, das weiß man doch.“ Er muss dies aber nicht unbedingt negativ bewerten – etwa wenn er gleichzeitig sagt: „Wir sind ja alle hinter dem Geld her, deshalb ist es nicht weiter schlimm“, oder aber wenn er keinerlei emotionale Ablehnung erkennen lässt. In so einem Fall wäre es falsch, von einer klaren antisemitischen Einstellung zu sprechen.

Antisemitismus unter Deutschen ist offenbar gut erforscht. Wie steht es mit den 8 Millionen Zuwanderern? Warum gibt es keine Zahlen über Vorurteile gegen Juden unter Muslimen?

Weil Antisemitismusforschung wesentlich kommerzielle Auftragsarbeit ist und sich für diese Frage offenbar niemand interessiert, aber auch, weil eine auf den Nahostkonflikt bezogene negative Einstellung gegenüber Israel in dieser Gruppe nicht umstandslos mit Antisemitismus gleichzusetzen ist.

Aber der gefährlichste militante Antisemitismus geht doch momentan von Leuten muslimischer Herkunft aus.

Richtig. Es hat Fälle von körperlichen Angriffen gegen Juden auf offener Straße gegeben, die wohl eher auf das Konto solcher Personen gehen. Für militante deutsche Rechtsextreme ist das untypisch. Die beschmieren Friedhöfe oder schreiben Schmähbriefe – körperliche Angriffe auf Juden sind nicht ihre Sache. Man muss beim Antisemitismus unter Muslimen hierzulande aber die Relation beachten – er dürfte nur bei einer kleinen Minderheit ausgeprägt sein. Bei den türkischen Migranten, der mit Abstand größten Gruppe, spielt Antisemitismus kaum eine Rolle. Es gibt aber, etwa in einigen Großstadtschulen, ein neues Phänomen: Konflikte zwischen jüdischen Schülern und solchen arabischer Herkunft, eine Auswirkung des Nahostkonflikts. Dieses Phänomen finden wir allerdings viel ausgeprägter in Frankreich. Dort kommt antijüdische Gewalt primär von Seiten arabischer Zuwanderer.

Antisemitismus 2002 in Deutschland bezieht sich vor allem auf Schuld und Vergangenheitsbewältigung. Viele mögen den Zentralrat der Juden nicht, weil er an etwas erinnert, das dem eigenen Selbstbild widerspricht. Kann man das so beschreiben?

Ja. Deshalb reden wir von sekundärem Antisemitismus. Im Jahr 2001 gab es eine Untersuchung unter Studenten an der Universität Essen. Das Resultat: Die traditionellen Stereotype – die Juden arbeiten mehr mit Tricks, haben zu viel Macht, sind an ihrer Verfolgung nicht ganz unschuldig – existieren so gut wie gar nicht mehr. Es gibt auch nur sehr, sehr wenige, die nichts mit Juden zu tun haben wollen. Nur bei einem Satz stimmten 20 Prozent zu: „Die Juden verstehen ganz gut, das schlechte Gewissen der Deutschen auszunutzen.“ Das scheint der wunde Punkt zu sein.

Sind das also Antisemiten?

Schwierig. Interessant ist die Frage nach dem Motiv: Warum antworten die Leute so? Wir finden bei antisemitischen Einstellungen heute nur noch drei prägende Zusammenhänge mit anderen Faktoren. Die generationelle Prägung und die Bildung sind von großer Bedeutung: also je älter und weniger gebildet, umso häufiger das Vorkommen von Antisemitismus. Und: je nationalistischer. Ich glaube, das ist der entscheidende Punkt. Der sekundäre Antisemitismus möchte den Holocaust ausblenden, um eine heile nationale Geschichte und Identität zu ermöglichen.

Wenn man 2002 jemanden Antisemit nennt, assoziiert man vernichtende Gewalt gegen Juden. Ist „Antisemit“ das passende Wort für das Phänomen, das Sie gerade beschrieben haben?

Daher ja das „sekundär“. Richtig ist, dass der rassistische NS-Antisemitismus heute keine Rolle mehr spielt und Antisemiten nicht auf eine Verfolgung von Juden zielen. Ich würde den Begriff aber trotzdem verteidigen: Denn es existieren ja durchaus Bezüge zum traditionellen Antisemitismus – etwa die Verbindung mit dem Nationalismus. Außerdem bietet der sekundäre Antisemitismus ein Motiv, das traditionelle Klischees mit neuem Leben erfüllen kann. Die Überzeugung, dass der Zentralrat zu viel zu sagen hat und über deutsche Politik bestimmt, greift auf das Stereotyp der „jüdischen Macht“ zurück. Das Gleiche gilt für die Kritik an Entschädigungszahlungen, in der das Bild vom geldgierigen Juden weiterlebt. Das Motiv ist also sekundär, der Ausdruck traditionell antisemitisch.

Es ist viel vom „latenten Antisemitismus“ die Rede. Ist das ein brauchbarer, scharfer Begriff?

Nein – zumindest nicht, wenn er so gemeint ist, dass die Menschen selbst nicht wissen, dass sie Antisemiten sind und wir Wissenschaftler ihnen das nachweisen. Das ist so wie manchmal in der Psychoanalyse: Das Unbewusste regiert, das Ich weiß nichts davon, die Wissenschaft ist klüger als das Ich. Wir sprechen von „Kommunikationslatenz“. Weil es die Norm gibt, sich nicht öffentlich antisemitisch zu äußern, schweigt auch die Mehrheit jener 20 Prozent, von denen wir wissen, dass sie antisemitische Einstellungen haben. Oder sie äußern ihre Einstellung allenfalls im kleinen Kreis. Insofern bleibt ihre Einstellung latent. Es geht bei den 20 Prozent, wohlgemerkt, um die Einstellungen – nicht um ihr Verhalten.

Wie wird aus dem, was Sie „kommunikationslatenten Antisemitismus“ nennen, offener Antisemitismus? Wirkt Möllemanns Angriff gegen Friedman in dieser Richtung?

Wie so eine Aussage wirkt, hängt von der öffentlichen Reaktion ab. Die Gesellschaft muss, auf vielen Ebenen, nicht nur in der Politik, zeigen, dass sie solche Äußerungen nicht toleriert. Damit wächst wiederum der Kommunikationsdruck, so dass „latente Antisemiten“ schweigen, weil ihnen Sanktionen drohen.

Führt die Möllemann-Affäre zu mehr Antisemitismus?

Kurzfristig kommt es zu mehr offenem Antisemitismus. Die jüdischen Gemeinden bekommen ja im Moment eine Flut von Schmähbriefen. Das ist ein Effekt der Debatte. Alle reden über Antisemitismus – das mobilisiert die Antisemiten, aber auch deren Gegner. Das heißt aber nicht, dass langfristig antisemitische Einstellungen zunehmen.

Letzte Frage zu Möllemann: Die Gesellschaft musste heftig reagieren. Fragt sich: Gibt es einen Punkt, an dem die gute Absicht in ihr Gegenteil kippt, weil sie Möllemanns Selbstinszenierung als Robin Hood unfreiwillig befördert?

Das ist ein Balanceakt. Der Zentralrat muss darauf bestehen, dass die Norm wiederhergestellt wird. Aber er muss auch den Eindruck vermeiden, auf jedes Grummeln und Nachkarten, auf jede kleine Provokation immer wieder zu antworten. Wahrscheinlich ist es klüger, den Skandal, wenn es möglich ist, für beendet zu erklären. Denn wenn der Überdruss wächst, wird dafür teilweise Möllemann, aber teils auch der Zentralrat verantwortlich gemacht. Dann wird der Lerneffekt, den die Wiederherstellung der Norm bewirken kann, eventuell wieder verschenkt.

Stimmt es, dass die Sensibilität für antisemitische Äußerungen seit den 50er-Jahren kontinuierlich gestiegen ist?

Möllemanns Satz wäre in den Fünfzigern nicht weiter aufgefallen. Damals hat Adenauer ganz selbstverständlich vom „Einfluss des Weltjudentums“ gesprochen, der es geboten erscheinen lasse, mit den Juden zu einem Ausgleich zu kommen – es ging um die so genannte Wiedergutmachung. Wenn ein Kanzler heute so etwas sagte, wäre das ein Skandal, damals nicht. Wir sind also empfindlicher geworden.