Panschen und Schnauze halten

Der Nitrofenskandal ist das Ergebnis schludriger Genehmigungspolitik und verantwortungsloser Vertuschungsversuche des Raiffeisen-Verbundes

von NICK REIMER

Die Treuhand soll’s gewesen sein. Am Wochenende klärte sich die Herkunft des nitrofenverseuchten Getreides. In Malchin, einem kleinen mecklenburgischen Örtchen nahe der Peenequelle, steht eine Lagerhalle. Hier war jenes Getreide deponiert, bei dem später erstmals Nitrofen nachgewiesen wurde. Lindan, Namedit, Trizilin oder DDT – bis zur Wende lagerten in der bunkerartigen Betonhalle die Staatsreserven an Pflanzenschutzmitteln der drei DDR-Nordbezirke Rostock, Schwerin und Neubrandenburg. Und dieses Erbe ist eben heute noch zu spüren: Eine Probe des Hallenstaubs ergab am Freitag eine Nitrofenbelastung von 2.000 Milligramm je Kilo. Im belasteten Ökoweizen waren knapp 6 Milligramm Nitrofen je Kilo gefunden worden. Der Grenzwert liegt bei 0,01 Milligramm.

Ohne Auflagen verkaufte die Treuhand nach der Wende die Halle. Längst ist der Käufer pleite, der Insolvenzverwalter verpachtete die Halle weiter – natürlich auch ohne Auflagen. Seit Oktober ist die Norddeutsche Saat- und Pflanzgut AG (NSP) aus Neubrandenburg Pächter, die in der Region Getreide aufkauft. Zum Beispiel bei der Agrargenossenschaft AVG: Der nach EU-Richtlinien zertifizierte Ökolandbauer aus dem uckermärkischen Flieth-Stegelitz war vor Wochenfrist als Übeltäter angeprangert, dann aber entlastet worden. Sein Getreide wurde in der Malchiner Halle eingelagert, getrocknet und dann an den Oldenburger Futtermittelhersteller GS agri weiterverkauft. Für ihn „unfassbar“ sei es, erklärt Mecklenburgs Landwirtschaftsminister Till Backhaus (SPD), dass der Bioweizen in einem ehemaligen Pflanzenschutzmittellager deponiert worden ist. Für Harald Cordes, Vorstand der NSP, überhaupt nicht: „Wir wussten, was in der Halle zu DDR-Zeiten gelagert war.“ Misstrauisch gemacht hat das den Pächter aber nicht. Schließlich verrät ein überdimensionales Schild gleich rechts neben der Betriebseinfahrt: „Dieses Unternehmen wurde mit Mitteln der Europäischen Union, des Bundes und des Landes Mecklenburg-Vorpommern gefördert.“

Das hat die NSP nun davon: „All ihre Standorte, auch in anderen Bundesländern, sind gesperrt worden“, erklärte Backhaus. Die Behörden in Mecklenburg-Vorpommern würden derzeit prüfen, ob es in den Betrieben, wo bereits Nitrofen gefunden wurde, auch Kontamination mit anderen Pflanzenschutzmitteln wie etwa Lindan oder DDT gebe. Im Vergleich zu diesen nämlich ist Nitrofen ausgesprochen harmlos. Und nicht nur die GS agri bezog Getreide von der NSP, sondern auch andere Kunden. Außer den nach Niedersachsen gelieferten 304 Tonnen Ökoweizen lagerten 50,6 Tonnen Lupine sowie 72 Tonnen anderer Weizen in der Halle. Die Lupinen sind vollständig ausgeliefert worden, vom Getreide sind noch 10 Tonnen übrig. Wohin die Ware geliefert wurde, war nach Angaben des Schweriner Agrarministeriums gestern noch unklar.

Auch wenn jetzt die Quelle bekannt ist – jede Menge Fragen sind ungeklärt. Etwa die, warum die Ökoprüfstelle NSP zertifizierte, ohne die Malchiner Lagerhalle zu kennen. Die Frage, wen NSP neben dem Oldenburger Futtermittelhersteller GS agri noch belieferte. Und: Was wusste die GS agri wann?

„Wir haben zu keinem Zeitpunkt wissentlich verseuchtes Futtermittel verkauft“, hatte der GS-agri-Geschäftsführer Paul Römann erklärt. Interessanterweise ist Römann gleichzeitig Teilhaber der Firma „Grüne Wiese Biohöfe“. Der andere Besitzer ist Heinrich Thiemann, der wiederum Inhaber der Wiesengold Landei GmbH ist. Bei den beiden großen niedersächsischen Geflügelproduzenten war Nitrofen im Futtermittel entdeckt worden. Geliefert hat das Futtermittel die GS agri.

Fast alle am Nitrofenskandal beteiligten Betriebe sind Mitglied des genossenschaftlichen Raiffeisen-Verbundes. Auch die Mecklenburger NSP. Und nach Erkenntnissen des Berliner Verbraucherministeriums existiert seit längerem ein internes Raiffeisen-Gutachten, das Empfehlungen gibt, wie der wirtschaftliche Schaden für alle Beteiligten so gering wie möglich gehalten werden kann: das giftige Getreide konventionellen Lebensmitteln beimischen und die Schnauze halten. Mit der Schadensabwicklung betraut war die R+V Versicherung. Ministerin Künast: „Der genossenschaftliche Raiffeisen-Verbund trägt die Hauptverantwortung dafür, dass Behörden und Öffentlichkeit nicht frühzeitig informiert wurden“.

Rückendeckung bekam Renate Künast gestern vom Kanzler. „Der Skandal um das nitrofenvergiftete Getreide zeigt, dass die Agrarwende wichtiger denn je ist“, sagte Gerhard Schröder in seiner Rede auf dem SPD-Parteitag in Berlin. Es gebe starke Kräfte in der Agrarlobby, die den Verbraucherschutz zurückdrehen wollten.

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