Zehn Gründe, nach Słubice zu fahren

Warum in aller Welt finden viele Deutsche und Polen diese Stadt so hässlich? Wer in Frankfurt (Oder) aus dem Regionalexpress steigt und über die Oder geht, hat allerlei zu entdecken: südländisches Flair auf der Zigarettenstraße, trocknende Wäsche und Plastiksprengstoff im Hotelzimmer

aus Słubice FELIX ACKERMANN

1. Słubice ist schön

Wenn am Morgen die Sonne über den Dächern aufgeht, die Oder in einen rötlichen Schimmer taucht und die Plattenbauten am Platz der Freundschaft mit ihren kleinen Balkonen in mattem Glanz erstrahlen, wenn die ersten Menschen durch die Zigarettenstraße zur Grenze eilen, die Stadtwache ihre morgendliche Runde dreht, der weißbraune Mischling um den gelben Kiosk läuft, dann beginnt ein schöner Tag.

2. Słubice liegt nah

Ostbahnhof Berlin. 9 Uhr morgens. Vorsicht am Gleis zwei. Ein Zug fährt ein. Der Regionalexpress rauscht. Die Schienen sind kaum zu spüren. Beim Schaffner erhalten Sie Chips für alkoholische Getränke. Zwischen Viadrina-Studenten und Beamten, die täglich mit dem RE 1 von Berlin nach Frankfurt (Oder) und zurück pendeln, sitzen einige Reisende auf dem Weg nach Russland, polnische Arbeiter fahren nach Hause, farbenfroh gekleidete Rentner begeben sich auf einen Fahrradausflug. Nach einer Stunde sind Sie da. Vom Bahnhof kann man laufen: den Berg hinunter, am Oderturm links, bei McDonald’s rechts. Ein Taxi zur Brücke kostet 4 Euro. Eine Busverbindung gibt es nicht.

3. Słubice ist europäisch

Am Rande der Volksrepublik Polen lag die Stadt lange Jahre abgeschnitten vom Rest der Welt, an einer Grenze des Krieges, die „Grenze des Friedens“, an einem Strom der Isolation, der „Strom der Freundschaft“ genannt wurde. Nun liegt die Stadt friedlich an der Außengrenze der Festung Europa, auf der Stadtbrücke spielen Bulgaren melancholisch deutsche Schlager, polnische Taxifahrer warten Karten spielend auf Kundschaft aus Frankfurt (Oder), am Collegium Polonicum studieren Deutsche und Polen die Geschichte und Gegenwart Mitteleuropas.

4. Słubice lebt

Es gibt Leute, die behaupten, Słubice sei wie Italien. Im Vergleich zum tristen Bunt Frankfurts, zu den leeren Straßen der deutschen Stadt, herrscht in Słubice mediterranes Klima. An der Promenade weht ein warmer Wind, die Sonne scheint bis in den Abend, auf der Straße Kindergeschrei, trocknende Wäsche auf den Balkonen. Die Diskothek bebt nach der Fastenzeit bis tief in die Nacht.

5. Słubice ist farbig

Am Bermudadreieck steht das „Lubuszanin“. Das vormalige Offizierskasino der polnischen Armee lädt zum Roulettespiel, im Restaurant blickt Hermes von der stuckverzierten Wand, die Bar ist immer leer. Schräg gegenüber erstreckt sich ein Betonkomplex, in der Mitte führt ein schmaler Aufgang ins „Belfast“, ein dunkles, irisch anmutendes Restaurant mit polnischer Küche. In der Ecke ein Kamin, die Kellner starren in den Fernseher.

In den Abendstunden öffnen sich die Türen zum „Copa Cobana“, der blau glitzernden Disko, in der Frauen und Männer vor einem großen Spiegel zu Dancefloormusik tanzen. An der dritten Seite des Platzes steht das Hotel Polonia, in dem man auch stundenweise verweilen kann. Im Eingangsbereich erschlägt den Besucher eine braun gebeizte Täfelung, im Restaurant bedient der Koch, das Essen schmeckt nach vergangenen Zeiten.

6. Słubice boomt

Hunderte Taxifahrer, ein Markt mit tausend Ständen, Dutzende Friseure, Zigarettenladen an Zigarettenladen, ein Ring von „Gesellschaftsagenturen“ an der Peripherie. Eine Sonderwirtschaftszone hinter der Stadt. Słubice blüht. Doch die Hochzeit ist längst vorbei. Der Markt steht wie ein Freilichtmuseum, mal leer, mal von kleineren Gruppen sich ratlos umblickender Deutscher durchströmt.

Die Inhaber von Tabac Shops stehen wartend in den Türen, in den Friseursalons wird getratscht, die Kundschaft bleibt aus, in der Sonderwirtschaftszone stehen drei Betriebe auf weitläufigem Grund.

7. Słubice ist gebrochen

Die Straße der polnischen Armee geht nahtlos in die Allee der polnischen Jugend über. Sie führt vorbei am Platz der Freundschaft zur Oder, hinaus aus der Stadt. Sie ist gesäumt von vier schräg versetzten Supermärkten, die sich hinter einem ausgedehnten Parkplatz erstrecken. Die Führung der alten Straßenzüge ist kaum mehr zu erkennen, Giebel zeugen von ihrem Verlauf, irgendwo hinter den Freiflächen stehen einige alte Häuser. Ein Zentrum ist nicht auszumachen. Nur die Narben einer gebrochenen Stadt.

8. Słubice ist jung

Im April 1945 tobten die letzten Kämpfe des großen Krieges in den Straßen der Dammvorstadt. Auf dem Rückzug in die Festung Frankfurt sprengten deutsche Soldaten die steinerne Brücke, gerade als die Rote Armee beide Ufer der Oder besetzt hatte. Noch kehrten einige Bewohner der Dammvorstadt zurück in ihre Häuser, kam die erste Delegation aus Poznań, um eine polnische Verwaltung aufzubauen. Der Gründungsakt von Słubice war die Ausweisung der Deutschen. Die folgenden Jahre waren ein verzweifelter Kampf um neue Bewohner, um Nahrung, die Wiederbelebung einer Stadt, die nicht mehr existierte, und gleichzeitig die Entstehung einer neuen Stadt.

9. Słubice ist wild

Quietschende Reifen vor dem London Pub, grölende Jugendliche in der ulica Mickiewicza, HipHop-Beats hinter weißen Gardinen, krähende Vogelschwärme, das Tuckern der Auspuffe in der Schlange zur Grenze, ein Durchbruchversuch, schimpfende Touristen, das Bellen der Straßenköter, entfernte Schüsse, Plastiksprengstoff im Hotel Polonia, Bestechungsversuche am Zollterminal, Gesten der Macht. Ohnmacht.

10. Słubice ist polnisch

Mintfarbene Fensterrahmen in der Straße der Arbeitereinheit als Verschönerungsmaßnahme. Der Kiosk an der Ecke als Tante-Emma-Laden. Die Litfaßsäule am Straßenrand als Ort der Kommunikation. Der sonntägliche Spaziergang mit dem Kinderwagen über den Platz der Freundschaft als kleinstädtisches Ritual. Die Fernwärmeleitungen zwischen den Häusern als verbindendes Element.

Die Schlange vor dem Lottoladen als Zeichen der Hoffnung. Kühlschränke auf Fahrradpedalen über die Brücke geschoben als Wohlstandstransfer. Der Stolz über europäische Plaketten und Diplome als identitätsstiftende Geste. Das 1924 erbaute „Kino Piast“ als Hort des amerikanischen Films. Die Angst vor Fremdem als Schutzmechanismus. Gutmütige Gemächlichkeit als Ausgleich für alles.