„Sie sollen mich für dumm halten“

Literatur als Kontrollmacht: In den Tagebuchcollagen seines „Echolot“-Projekts scheint Walter Kempowski als Autoreninstanz zu verschwinden

Jugend im Krieg. Vater gefallen. Abgebrochene Schulausbildung

von ANSGAR WARNER

Über Grimmelshausen, Zeitgenosse des Dreißigjährigen Krieges und Schöpfer des „abenteuerlichen Simplicissimus“, notierte Wolfgang Koeppen einmal, dieser sei ein „in die Zeit gehängtes Netz“ gewesen, in dem sich alles nur denkbare Material verfangen habe. Ein ähnliches Netz hat für das 20. Jahrhundert Walter Kempowski aufgespannt. Seit Beginn der Neunzigerjahre leuchtet er mit seinem „Echolot“-Projekt den Zeitraum von 1939 bis 1945 dokumentarisch aus.

Zu einem kollektiven Bewusstseinsstrom montiert die ungewöhnliche Synopse unzählige Erinnerungsfragmente aus Tagebüchern, Briefen und Erinnerungen bekannter und unbekannter Zeitgenossen, offizielle und inoffizielle Dokumente. Die Menge des von Kempowski recherchierten Materials ist so umfangreich, dass pro Band nur wenige Wochen exemplarisch ausgewählt werden – trotzdem füllt das „Echolot“ inzwischen mindestens einen halben Regalmeter.

Der aktuelle Band mit dem Titel „Barbarossa 1941“ versammelt Textzeugnisse aus dem Jahr des Angriffs des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion. Zwei Wochen im Juni und Juli des Jahres 1941 schildern zunächst den erfolgreichen Beginn der Offensive. Zwei Wochen im Dezember stehen dann für den jähen Wendepunkt. Der Vormarsch der Wehrmacht kommt vor Moskau zum Stehen, die Vereinigten Staaten treten nach Pearl Harbour in den Krieg gegen die „Achsenmächte“ ein.

Doch auch im aktuellen Band reichen die Strahlen des Echolots weiter und tiefer, bietet sich der Eindruck eines mikrohistorischen Kaleidoskops: So stehen Briefe eines unbekannten SS-Mannes aus Litauen neben dem Journal Thomas Manns im amerikanischen Exil, Ernst Jüngers Pariserlebnisse neben den Erinnerungen überlebender Einwohner des belagerten Leningrad, eitle Schreibtischnotizen des Reichspropagandaministers neben dem grausam-monotonen Alltag des Auschwitzer Lagertagebuches. Die Vielzahl der Stimmen, die jeden der ausgewählten Tage bestimmt, der schnelle Perspektivwechsel ist zunächst verwirrend: Was für eine Geschichte wird hier erzählt?

Unter anderem die des Zeitgenossen Walter Kempowski selbst, der sich trotz aller historischer Umwälzungen um das Wiederzusammenfügen und Behaupten der bedrohten, beschädigten Identität bemüht. Mit dem Zweiten Weltkrieg dokumentiert das „Echolot“-Projekt nichts anderes als den biografischen Urknall, der die kompilatorische Manie des 1929 geborenen Autors begründet hat. Jugend im Krieg. Vater gefallen. Abgebrochene Schulausbildung. Und dann holten 1948 Kempowski schließlich die Ausläufer der deutschen Katastrophe ein: Unter dem Vorwurf der Spionage für die Westmächte wurde er 1946 in der sowjetischen Besatzungszone inhaftiert. Erst 1956 konnte Walter Kempowski endlich die berüchtigte Stasihaftanstalt von Bautzen in Richtung Westdeutschland verlassen.

In beachtlichem Tempo betrieb der „Spätheimkehrer“ von nun an die eigene Resozialisierung. Er studierte Pädagogik, heiratete die Tochter eines Pfarrers und etablierte sich als Dorflehrer in der niedersächsischen Provinz. Gleichzeitig begann Kempowski, die Geschichte seiner Familie bis in die unmittelbare Gegenwart zu rekonstruieren. Unermüdlich sammelte und ordnete er Fotografien, Schriftzeugnisse und sonstige Requisiten. Schließlich konnte er konstatieren, die Familie sei „auf dem Papier wiederaufgebaut“.

Erste Versuche, die langen Haftjahre literarisch zu bewältigen, fanden in den Augen der Lektoren zunächst keine Gnade. Darauf änderte Kempowski sein Konzept: Er gab die literarischen Ambitionen scheinbar auf. Die neue Stilebene hieß Protokoll, kommentarloser, scheinbar wertungsfreier Bericht. Die eigene Person reduzierte er zum bloßen Übermittlungsmedium. Die Rechnung ging auf: Der Rowohlt-Verlag nahm Kempowskis „Haftbericht“ in das Verlagsprogramm auf.

Doch arbeitete Kempowski inzwischen längst an einem anderen Projekt: der Umwandlung der eigenen Familiengeschichte in einen dokumentarischen Roman. Die Ergebnisse seiner Detailrecherchen organisierte er von nun an in einem umfangreichen Zettelkastensystem, das am Ende über 40.000 Karteikarten umfassen sollte. Der Schreibprozess verwandelte sich in den flexiblen Umgang mit Textblöcken: „Ich hindere mich am Tippen, Zettel treten an die Stelle. Erleichtern die Kontrolle des roten Fadens. Einfall A wird abgewandelt als A 1, A 2, A 3 und an anderer Stelle deponiert […].“

Der scheinbar naiv erzählten Familienchronik „Tadellöser & Wolff“ liegt aber nicht nur diese bürokratische Logistik, sondern ebenso eine sorgfältig abgewogene Wirkungsästhetik zu Grunde, die den technischen Entstehungsprozess verschleiert: „Sie dürfen es nicht merken. Sie sollen mich fast für dumm halten. Alles soll harmlos aussehen.“ Kempowski verzichtet auf jeden direkten Kommentar, er hält sich bewusst zurück: „Nicht versuchen zu argumentieren, auch nicht durch Dialogführung. Einfach nur aufzeigen.“

Das Lesepublikum war von diesem neuen Typus von Dokumentarliteratur begeistert. Der eigentliche Effekt des „Kempowski-Tons“ lag aber gar nicht so sehr beim reinen Wiedererkennen. Viele Leser empfanden Kempowskis Chronik des deutschen Alltagslebens der Dreißiger- und Vierzigerjahre offenbar als Legitimation der eigenen Biografie, während die Geschichtsschreibung und Literatur ihnen sonst mit dem didaktischen Zeigefinger kam.

Doch die vermutete didaktikfreie Geschichtszone beruhte wohl eher auf einem Missverständnis. Denn die besondere Beobachtungsschärfe Kempowskis macht noch in den feinsten Verästelungen der Erzählung die alltägliche Verstrickung des Bürgertums in den Faschismus deutlich – man muss nur aufmerksam genug lesen. Die „Dominanz des Tatsächlichen“ (so der Oldenburger Germanist Manfred Dierks) ist inszeniert – der Autor verschwindet nur scheinbar.

Abseits der eher konventionell-dokumentarischen Literatur etwa Peter Rühmkorfs, Uwe Johnsons oder Günter Grass’ begibt sich Kempowski damit in die Nähe von Alexander Kluges experimentellen Faktenmontagen, begonnen mit der Anfang der Sechzigerjahre publizierten Stalingrad-„Schlachtbeschreibung“. Der „Lehrmeister der Wahrnehmung“ Kluge stellt ähnlich radikal die Frage danach, wie Menschen Geschichte erleben, wie ihnen die Realität begegnet. Und wie bei Kempowski ist die Antwort unlösbar verbunden mit der Grunderfahrung des Kriegserlebnisses.

Auffällige Ähnlichkeiten mit Kempowskis Zettelkastenpanoramen hat insbesondere die Mitte der Siebzigerjahre veröffentlichte Beschreibung des Luftangriffes auf Halberstadt im April 1945, den Kluge als Kind selbst miterlebt hat. Die nüchternen Protokolle des Funkverkehrs der alliierten Bomberverbände stehen zwischen den Aufzeichnungen der traumatisierten Überlebenden aus den Luftschutzkellern. Was in den fliegenden Festungen der Alliierten als minutiös geplanter, wertfreier technischer Prozesses abläuft, bringt für die Stadtbevölkerung am Boden Chaos, Tod und Verwüstung. Eine ausweglosere Trennung paralleler Erlebniswelten, die gleichzeitig ein untrennbares Bedingungsgefüge bilden, ist wohl kaum denkbar.

Kempowski bietet Vergleichbares in einem der bereits erschienenen „Echolot“-Bände bei der Darstellung des vernichtenden Luftangriffes auf Dresden im Februar 1945. Doch auch in „Barbarossa 1941“ wird durch den ständigen Perspektivwechsel das mit Blut geschmierte geschichtliche Getriebe bloßgelegt: Die Sieger von heute sind die Besiegten von morgen. Fortsetzung und erneuter Rollenwechsel nicht ausgeschlossen.

Damit ist eine der Grundfragen des 20. Jahrhunderts gestellt: Wie kann man der Geschichte, die uns vielleicht alle umbringen wird, entkommen? „Entweder erzählt die Geschichte ihren Real-Roman, ohne die Rücksicht auf die Menschen, oder aber die Menschen erzählen ihre Gegengeschichte“, formuliert es Kluge.

Anders als der ebenfalls vom Krieg traumatisierte Einsiedler Arno Schmidt, der seine Zettelkasten-Gegenwelten hauptsächlich aus der fiktionalen Literatur schöpfte, basteln Kempowski und Kluge an der Fiktion einer Gegengeschichte, die sich unmittelbar aus den Bruchstücken der geschichtlichen Wirklichkeit speist. Wie ihr Kollege Schmidt gewinnen sie damit die Kontrollmacht über ihr beschädigtes Leben zurück – zumindest als kurzfristige Illusion.

Walter Kempowski: „Das Echolot. Barbarossa 1941“. Knaus Verlag, München 2002. 700 Seiten, 49,90 €