Arbeiten, um zu leben

Blaumacher gelten als Drückeberger. Doch mit dieser Stigmatisierung macht man es sich viel zu leicht. Denn kleine Fluchten aus dem Job machen gesund. Bemerkungen zu einem Phänomen der Arbeitskultur

von HERMANN BUEREN

Mit Blaulicht und Sirene, aber im Schritttempo zuckelten vor einigen Wochen mehrere hundert Gendarmen in ihren Fahrzeugen Richtung Nantes. Ihr Ziel war der Dienstsitz ihres Vorgesetzten. Sie überreichten ihm eine Denkschrift als Protest gegen unzumutbare Arbeitsbedingungen, schlechte Bezahlung und angeordnete Überstunden. Danach stiegen sie erneut in ihre Dienstwagen und begaben sich zu einem „kollektiven Arztbesuch“, wo sie sich geschlossen arbeitsunfähig schreiben ließen, obwohl sie kerngesund waren. Wenige Tage zuvor hatten bereits ihre Kollegen aus Montpellier und Marseille mit dem „Blaumachen auf Krankenschein“ für Aufsehen gesorgt.

Vor einigen Monaten brachte eine Multimediafirma ihr Produkt namens „Krankheitssimulator“ auf den Markt. Die CD-ROM wurde in kürzester Zeit ein Bestseller. Sie versorgt Arbeitsmüde mit Symptomen: Zur Vorbereitung auf den Arztbesuch einfach unter den fünfzehn Krankheitsbildern ein Leiden auswählen, die Symptome einstudieren, fertig! „Es ist so einfach, eine Krankheit zu simulieren“, lockte die Firma, die ihr erfolgreiches Produkt als „Realsatire“ und „Spaßprodukt“ verstanden wissen wollte. Proteste aus der Ärzteschaft und die Drohung der Berliner Betriebskrankenkassen, die Staatsanwaltschaft einzuschalten, um das Produkt vom Markt zu nehmen, blieben erfolglos. Die Firma änderte kleine Details, betreibt aber weiterhin Werbung für ihr Produkt.

Schon einmal, 1980, sorgte eine kleine praktische Broschüre, deren Titel „Wege zu Wissen und Wohlstand“ eher an esoterische Literatur erinnerte, für Aufregung. Unter dem Motto „Lieber Krankfeiern als gesund schuften!“ gab der Ratgeber allen notorischen „Blaumachern“ oder solchen, die es werden wollen, zahlreiche Tipps und Anregungen. Auch damals hagelte es in der Öffentlichkeit Proteste. Der Verbreitung der Broschüre tat das keinen Abbruch.

Die Reaktion auf das „Blaumachen“ – eine Mischung aus Wut, Empörung und moralischer Verdammung – bleibt seit Jahrzehnten die Gleiche. In der harmlosen Variante gelten „Blaumacher“ als unkollegial, weil sie ihren Kollegen Mehrarbeit aufbürden, oder als „zu wehleidig“, weil sie jedes „Zipperlein“ zum Arzt treibt. In der härteren Variante gelten „Blaumacher“ als Drückeberger, Simulanten und als schamlos, weil sie das soziale Netz ausnutzen.

„Blaumachen“ scheint ein alltägliches Phänomen zu sein. Das Oberverwaltungsgericht Koblenz entfernte Anfang Februar einen 41-jährigen Polizeibeamten aus dem Dienst, weil er seine dreijährige Arbeitsunfähigkeit zum Aufbau einer eigenen Baufirma genutzt hatte. Der Bundesverband Deutscher Detektive meldet, dass inzwischen fünfzehn bis zwanzig Prozent aller Aufträge der Observierung häufig fehlender Beschäftigter dienen. Unternehmensberater, die sich auf betriebliche Fehlzeiten und „Blaumachertum“ spezialisiert haben, gibt es inzwischen zahlreich. Sie schätzen den Anteil „motivationsbedingter“ Erkrankungen auf bis zu fünfzig Prozent. Nachprüfbare Zahlen existieren nicht. Eher scheinen diese Mutmaßungen dazu zu dienen, Unternehmern die Notwendigkeit zu verdeutlichen, einen Fehlzeitenberater (gegen gutes Geld!) zu Rate zu ziehen. Von einem „Volkssport Krankfeiern“ lässt sich nicht sprechen. Seit Jahren sinkt der Krankenstand in den Betrieben und liegt zurzeit bei vier Prozent.

Der gesellschaftliche und betriebliche Umgang mit dem Phänomen ist Ausdruck einer tief sitzenden Furcht. „Blaumachen“ gerät zum Symbol für einen ständig fortschreitenden Wertewandel unter den Beschäftigten. Dieser Wandel von Erwartungen und Einstellungen ist im gesellschaftlichen Umfeld der Unternehmen schon seit den Siebzigerjahren Thema und wird mal mit „Konsumgesellschaft“ oder „Freizeitgesellschaft“, neuerdings mit dem Begriff „Erlebnisgesellschaft“ oder „Spaßgesellschaft“ umschrieben. Wie immer die Etikettierung lautet, befürchtet wird, dass dieser Wandel zu deutlichen Abschwächungstendenzen des traditionellen „bürgerlichen“, auf Arbeit als Lebensziel ausgerichteten Wertesystems führt. Unter diesen Vorzeichen signalisiert das Phänomen das langsame Schwinden des typischen „deutschen“ Arbeitsethos (Motto: „Man lebt, um zu arbeiten!“).

Damit kann sich die Gesellschaft und das Management immer weniger auf einen tief sitzenden, quasi automatisch wirksamen hohen Motivationsgrad der Beschäftigten verlassen, der noch in der Nachkriegszeit Garant eines harten und unermüdlichen Arbeitseinsatzes war. So gesehen hat die Diskussion des „Blaumachens“ das Ziel, Arbeitspflicht und Leistungserbringung als Kardinaltugenden einer „Arbeitsgesellschaft“ im gesellschaftlichen Wertekonsens immer wieder aufs Neue zu verankern. Dies erklärt auch, warum das Thema mit so viel Moral verbunden ist.

Als Phänomen gehört „Blaumachen“ in die Arbeitskultur. Der Begriff beschreibt die Verhaltensweisen der Beschäftigten im Umgang mit ihrer Arbeit. Sie erleben – entgegen der in der Managementliteratur weit verbreiteten Botschaft, wonach Arbeit gleichzusetzen ist mit Ausleben von Kreativität und Erleben von Lustgefühlen – ihre Arbeit als Herausforderung und Zumutung gleichermaßen.

Als Herausforderung an die Entwicklung eigener Fähigkeiten und Bedürfnisse ebenso wie als Zumutung im Sinne einer Einengung der Persönlichkeitsentfaltung und des Erlebens von Arbeitsleid. „Offiziell“ die Arbeitszeit abstempeln und anschließend weiter arbeiten, Arbeit mit nach Hause nehmen, der „Dienst nach Vorschrift“, widerspenstiges Verhalten gegenüber Vorgesetzten, Bummelei, der offizielle und inoffizielle Umgang mit Alkohol. „Blaumachen“ unterscheidet sich von anderen Verhaltensweisen der Arbeitskultur vor allem durch seine gesellschaftliche und betriebliche Stigmatisierung.

Sozialhistoriker wissen, dass „Blaumachen“ schon zur natürlichen Arbeitskultur der mittelalterlichen Färbergesellen gehörte. Wichtigster Farbstoff zum Färben war der aus Indien stammende Indigo oder der etwas weniger intensive Färberwaid. Zur Herstellung des Farbstoffes wurden die Blätter des Färberwaids in Kübeln mit menschlichem Urin vergärt. Durch die Zugabe von Alkohol wurde der Gärungsprozess verstärkt. Da Alkohol teuer war, tranken die Färber viel Alkohol, der dann im Urin angereichert war. Zum Färben der Stoffe wurden diese meist sonntags für mindestens zwölf Stunden in das Färbebad eingetaucht. Die blaue Farbe in den Textilien zeigte sich jedoch erst, wenn diese längere Zeit in die Luft gehängt wurden. Immer wenn die Färbergesellen betrunken daneben lagen, um auf das Ergebnis zu warten, wusste jeder, dass blau gefärbt wurde. Die Färber waren „blau“ und machten „blau“.

Auch der Begriff „blauer Montag“ findet hier seinen Ursprung. In der mittelalterlichen Gesellschaft ist der „blaue Montag“ Bestandteil einer bäuerlichen und städtischen Festtagskultur, zu der auch Jahrmärkte und traditionelle Feiertage zählten. Bis zu Beginn der industriellen Revolution folgten die arbeitenden Menschen immer noch dem Zeitrhythmus der Feudalgesellschaft. Zyklen harter Arbeit und schmaler Kost wechselten sich mit regelmäßigen Festtagen und Jahrmärkten ab. An diesen Tagen, zu denen auch der „blaue Montag“ zählte, wurde ausgiebig gegessen und getrunken, getanzt und gefeiert. Erst die kapitalistische Arbeitsorganisation mit Fabrikglocke und -uhr zwang die Menschen in einen neuen Zeit- und Arbeitsrhythmus. An Stelle des „unwirtschaftlichen“ Rhythmus der Feudalgesellschaft traten allmählich die Zeitstrukturen kapitalistischer Fabrikdisziplin und die moralische Verurteilung des „Blaumachens“ sowie des „blauen Montags“.

In Schweden erklären Arbeitsmediziner das Phänomen mit der „coping-Theorie“ (nach dem englischen Begriff coping – aushalten, ertragen). Danach setzt sich insbesondere in Phasen steigender Nachfrage und Konjunktur jeder im Betrieb persönlich ein. Das geht einige Monate gut, dann lässt auch bei denen, die im engeren medizinischen Sinne gesund sind, die Spannkraft nach. Man hält noch einige Zeit durch, später wird es für alle kritisch. Manche spannen aus und nehmen sich einige Krankheitstage. Die Arbeitnehmer achten verstärkt auf die Signale ihres Körpers und bleiben kurze Zeit vom Arbeitsplatz weg, um vorzubeugen. Wer das tut, handelt nach Meinung der schwedischen Forscher genau richtig. Denn Vorbeugen ist besser als Heilen – ein fundamentaler Grundsatz der Medizin. Bei der Untersuchung sehr vieler Krankengeschichten konnte festgestellt werden, dass die Kurzzeiterkrankten nur selten später „langzeitkrank“ werden.

Nicht nur Gewerkschafter und Sozialforscher, auch Arbeitsmediziner widmen sich in jüngster Zeit einem (neuen) Phänomen: Psychische Belastungen und Beanspruchungen in der Arbeitswelt insbesondere in qualifizierten Angestelltenbereichen nehmen in gravierendem Ausmaß zu. Am deutlichsten zeichnet sich diese Entwicklung in der IT-Branche und der New Economy ab. Geprägt sind diese Bereiche von flexiblen Arbeits- und Beschäftigungsformen und (positiv zu bewertenden) Arbeitsanforderungen wie Selbstständigkeit und Wahrnehmung eigener Handlungsspielräume. Die Diskussion über die Folgen dieser Entwicklung schwankt zwischen Euphorie und Ablehnung: IT-Manager und manche Unternehmensberater begrüßen diese Entwicklung als Meilenstein zu mehr Selbstverwirklichung und Ausleben von Kreativität im Arbeitsleben. Kritiker warnen dagegen vor einem Arbeiten ohne Ende und einer zunehmenden Tendenz zur (Selbst-)Ausbeutung der in diesen Branchen Beschäftigten.

Diese Beschäftigten zeichnet ein hohes Maß von zeitlicher Verfügbarkeit, Eigeninitiative, Selbstorganisation und insbesondere Leistungsbereitschaft sowie Belastbarkeit aus. Sie empfinden ihre Arbeit als persönliche Herausforderung und entwickeln zeitweise einen regelrechten Lustgewinn in der Arbeit. Ihre interessante Tätigkeit und das damit verbundene Sozialprestige lässt sie unter Umständen auch dann noch zur Arbeit gehen, wenn sie wirklich krank sind und sich eigentlich auskurieren müssten. Arbeit gerät unter diesen Umständen zu einer Leidenschaft und bestimmt das Leben auf eine Weise, die im wahrsten Sinne des Wortes „Leiden schafft“. Die Fähigkeit „blauzumachen“, wäre für solche Menschen eine durchaus gesundheitsfördernde Alternative und trüge dazu bei, ihrer Arbeit wieder ein gesundes Maß zu geben.

Die betriebliche Diskussion der motivationsbedingten Fehlzeiten fixiert sich auf die Konstellation, dass Menschen gesund sind, aber ihrem Arbeitsplatz fern bleiben. In der schwedischen Literatur gibt es die mit der Abwesenheit vom Arbeitsplatz negativ besetzten Etiketten nicht. Auch im angelsächsischen Sprachraum wird der Begriff „absenteism“ schlicht im Sinne von Abwesenheit gebraucht und schließt alle Formen der Abwesenheit vom Arbeitsplatz ein. Dies berücksichtigt, dass eine genaue Unterscheidung zwischen „objektiv krankheitsbedingten“ und „Krankheit vortäuschenden“ Fehlzeiten nicht möglich ist.

Vor allem soll aber mit dieser Definition auch die psychische Abwesenheit erfasst werden: Der Beschäftigte ist an seinem Arbeitsplatz anwesend, aber psychisch entweder nicht leistungsfähig oder nicht leistungswillig.

Auch diese Konstellation ist eine Art von Absentismus. Unter dem Stichwort „innere Kündigung“ oder „Burn-out-Syndrom“ wird diese Form der Abwesenheit nicht nur in der Arbeitspsychologie, sondern auch in den Betrieben und Verwaltungen ernsthaft und im Unterschied zum „Blaumachen“ vergleichsweise sachlich diskutiert. Tatsächlich sind psychische Formen der Abwesenheit während der Arbeit, zu denen auch Resignation und reduziertes Engagement im Arbeitsalltag zählen können, möglicherweise viel bedeutender (und für die Unternehmen teurer!) als die physische Abwesenheit in Form des „Blaumachens“.

HERMANN BUEREN, 46, ist Soziologe. Von ihm erschien zuletzt: „Weiteres Fehlen wird für Sie Folgen haben“, Kellner-Verlag, Bremen 2001, 160 Seiten, 16,90 Euro