Der Plünderer hat ein Gesicht

Objektivität oder „Denunziationsjournalismus“? Die Frage nach der Wahrheit der Bilder kommt auch bei der Berichterstattung über die Krawalle am 1. Mai wieder hoch, sowohl bei den Fotografen als auch bei den Redaktionen, die die Bilder abdrucken

von JENNI ZYLKA

Auf dem Foto flüchtet ein junger Mann aus dem Plus-Markt am Kreuzberger Oranienplatz, in der Hand ein paar Flaschen Wein. Das Bild daneben zeigt einen anderen, der, ebenfalls komplett unvermummt und deutlich zu erkennen, in die Kamera grinst und seine Piccolo-Flasche Sekt, ein Bier und eine Flasche Saft schwingt.

Die Bild-Zeitung hat in ihren Ausgaben vom 2. und 3. Mai über die 1.-Mai-Krawalle berichtet. In gewohnter Manier, voller Pathos, voller tendenziöser, gefühliger Betroffenheitsrhetorik und voller kurzer Sätze ohne Prädikat.

Neu ist, dass sie die Gesichter der Plünderer nicht mehr unkenntlich macht. Und neu ist, dass auch das Berliner Lokal-Boulevardblatt B. Z., die Welt (alle Springer-Verlag) und der Tagesspiegel (Holtzbrinck-Verlag) die gleichen Fotos abdrucken, mehrere Einzelbilder von unvermummten jungen Männern beim Plus-Markt-Plündern, alle mit erkennbaren Köpfen, deutlich wie auf einem Fahndungsplakat.

Die Bild-Zeitung fragt über eine Fotoreihe von fünf Krawallisten: „Was geschieht jetzt mit den dreisten Plünderern?“, und gibt im Text gleich die rechtlich anscheinend schon feststehenden Antworten: „Der Gesetzgeber wird die Chaoten wegen besonders schweren Diebstahls … schweren Landfriedensbruchs … und Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte (sechs Monate bis zu fünf Jahre) bestrafen.“

„Wenn wir ein Foto von einem gehabt hätten, der vermummt war, dann hätten wir das lieber genommen“, sagt der Fotograf Priske, der die Aufnahme mit dem Weindieb gemacht hat. „Aber die Demonstranten haben uns ganz schnell dort weggejagt.“ Und so genannte gebalkte Fotos, also Bilder, die mit einem schwarzen Balken über den Augen versehen werden, würde er gar nicht erst losschicken: „dann sinken die Chancen, dass es zu einer Veröffentlichung kommt“.

Auch ein Fotograf einer Berliner Agentur stellt fest, dass der „Markt viel sensationslüsterner“ geworden sei. Allerdings könne er nicht verstehen, warum Kollegen solche Bilder zum Abdruck freigeben: „Das geht schon in die Richtung von Denunziationsjournalismus.“

Die große Fotoagentur Reuters Deutschland beruft sich auf ihre Objektivität: „Reuters erachtet das Balken oder Pixeln von Fotos als Manipulation der Bilder“, sagt der Reuters-Fotograf Wolfgang Rattay, von dem mehrere 1.-Mai-Bilder plündernder Demonstranten in den letzten Tagen veröffentlicht wurden. Er habe sich bei der Aktion vor dem Plus-Markt außerdem gewundert, dass „sich die Demonstranten gar nicht an den Medien zu stören schienen“, sondern begeistert weitermachten.

Rechtlich kann noch einiges folgen. In Fällen, in denen illegales Handeln (wie Plündern) klar zu erkennen ist, muss die Polizei gegen die Abgebildeten ermitteln. Allerdings sind die Fotografen nicht verpflichtet, ihr zum Beispiel die Originale zur Fahndung zur Verfügung zu stellen, sondern können sich auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen. Andererseits könnten die Abgebildeten aber auch auf ihr „Recht am eigenen Bild“ pochen und einen Abdruck eines Einzelfotos zu untersagen versuchen, was vermutlich keiner tun wird, dem man aufgrund des Fotos ganz klar Landfriedensbruch nachweisen kann.

Außerdem könnten die Redaktionen, gegen die eine solche Klage erhoben würde, ihr Vorgehen damit begründen, dass die traditionelle 1.-Mai-Demo schließlich ein zeitgeschichtlicher Vorgang sei und damit ein Demonstrant, der später zum Plünderer wird, quasi eine relative Person der Zeitgeschichte werde. Und schon darf man ihn wieder unverpixelt oder unverbalkt abdrucken.

Wieso in diesem Jahr überhaupt so viele Unvermummte in die Kameras dölmerten, darüber wird von allen in die gleiche Richtung spekuliert: Besonders jung seien die Demonstranten gewesen, viele betrunken, anscheinend ohne das Wissen darum, wie man sich bei politischen Demos verhält. Und es gibt ein Vermummungsverbot. Aber ob das die Plünderer davon abgehalten hat, steht vermutlich nicht mal in den Sternen.