Das kollektive Wissen

Wo Jazzanova draufsteht, ist Jazzanova drin: Das Berliner Produzenten- und DJ-Netzwerk hat seinen Sound zum internationalen Markenzeichen aufgebaut. Ihr Albumdebüt beweist ihre Kunstfertigkeit

von HARALD PETERS

Die ersten Minuten sind unschlagbar. Einige (wahrscheinlich) Frauenstimmen rufen aus einem nach allen Regeln der Kunst verfremdeten Sample eines an dieser Stelle unbekannten, wahrscheinlich aber sehr alten Songs „something’s missing“, rufen dann noch ein, zwei, drei weitere Male, bis sich einige (möglicherweise) Männerstimmen einschalten, um den Ruf aufzunehmen, woraufhin dann eine Zeit lang hin und her gerufen wird, bis eine Frauenstimme im Stile alternder Jazzsängerinnen das Gerufe ausbremst und damit die Überleitung zu einer Aneinanderreihung von Instrumentalsamples schafft, wie man sie so, wenn überhaupt, lange nicht gehört hat. Das Besondere ist nämlich, dass die Instrumentalsamples, so wie sie hier nacheinander erklingen, eigentlich gar nicht zusammenpassen und seltsamerweise gerade deshalb wie füreinander geschaffen scheinen. Dann verändert sich der Song erneut, findet scheinbar seinen Fluss, pendelt sich auf hohem Barjazz-Niveau ein, kippt von dort aus in verschiedene Richtungen und glänzt dabei durch diverse Gesangseinblendungen, einem ordentlichem HipHop-Beat sowie noch ganz anderen Versatzstücken. So ungefähr beginnt „L.O.V.E. And You & I“, und mit eben diesem Titel beginnt auch das neue Jazzanova-Album „In Between“. Es ist das erste seit Entstehung der Gruppe vor sieben Jahren.

Jazzanovas Geschichte beginnt im „Delicious Doughnuts“, einem Berliner Club, der Mitte der 90er noch die Rolle spielte, von der er heute gerne träumt. Um diese Rolle zu unterstreichen, soll 1995 eine Club-Compilation angefertigt werden, zu der auch drei Delicious-Doughnuts-DJs um einen Beitrag gebeten werden. Die drei DJs ziehen drei befreundete Produzenten zu Rate, anschließend beginnt man mit der Arbeit am bestellten Stück. Obwohl die Compilation niemals erscheint, ist der Grundstein zu Jazzanova damit gelegt. Um das fertige Stück zu veröffentlichen, verlegt das sechsköpfige DJ-Produzenten-Gespann die Maxi „Fedime’s Flight“ selbst und hat damit zur allgemeinen Überraschung Erfolg.

Die Spur der Sammler

Nun braucht es für den Erfolg einer Debütmaxi einer bis dato unbekannten Formation mehr als nur ein gelungenes Stück Musik: Manchmal hilft etwas Glück, besser noch ist der Kontakt zu den richtigen Leuten. Wie sie erklären, waren sie schon vor Jazzanova-Zeiten Teil eines weltumspannenden Vinyl-Sammler-Netzes, dass mit vereinten Kräften nach unentdeckten oder verschollenen Brazil-, Afro-, Jazz-, Soul-, Funk- und Was-auch-immer-Platten fischte, um sich anschließend über Fundorte und Fundstücke auszutauschen. So kannten sie Rainer Trüby und den Münchener Compost-Records-Chef Michael Reinboth und lernten dann über jene, was wahrscheinlich wichtiger war, bald auch den Londoner Talkin’-Loud-Labelchef Gilles Peterson kennen. Dank dieser und anderer Schnittstellen agierte die Jazzanova-DJ-Sektion bald international, wenig später flatterten erste Remix-Aufträge für die Produzenten ins Haus. Und während sie sich auf diese Weise mixend und remixend ihren Weg bahnten, lernten sie immer mehr Leute kennen, was dem Erfolg nicht eben entgegenwirkte.

Jazzanova sind mittlerweile ein weltweit bekanntes Unternehmen, das sich aus den Personen Axel Reinemer, Stefan Leisering, Roskow Kretschman, Jürgen von Knoblauch, Alexander Barck und Claas Brieler zusammensetzt, in dem die Personen allerdings hinter dem Trademark verschwinden. Anders gesagt: In der Regel kennt man nicht einmal ihre Namen. Wer also Jazzanova für eine Party bucht, bucht zwar einen Jazzanova-DJ, aber er bucht keinen bestimmten. So ist es theoretisch möglich, dass Jazzanova zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten auflegen. Beauftragt man Jazzanova mit einem Remix, verhält es sich ähnlich; wer was macht, ist nicht ganz klar. Dabei ist es allerdings nicht so, als würden Jazzanova ein Geheimnis darum machen – vielmehr ist es so, dass es eigentlich niemanden interessiert. Steht Jazzanova drauf, steckt Jazzanova drin, und der Rest ist eigentlich egal. Auf Nachfrage erfährt man allerdings, dass Jazzanova stets in wechselnden DJ-Produzenten-Paarungen arbeiten. So werkelt man dann zu zweit an einem Stück, reicht die Arbeitsproben an die vier anderen zur Zwischenbegutachtung weiter, um sich zum Feinschliff schließlich wieder zurückzuziehen. Der gerät dann in der Regel derart fein, dass es den sechs Jazzanovas wahrscheinlich selbst sehr schwer fallen dürfte, die Stücke nach Fertigstellung auf ihre Macher zurückzuführen. Die Arbeitsteilung funktioniert also reibungslos.

Auch die Arbeit mit dem Netzwerk, das sich Jazzanova als lokales Netzwerk geschaffen haben, funktioniert. Man kennt es unter dem Namen Sonar Kollektiv; ein Geflecht, in dem DJs, Produzenten, Labelmacher, Veranstalter und Menschen mit ähnlichen, namentlich nicht genauer zu benennenden Tätigkeiten ihren Geschäften nachgehen. Man ist also eingebunden. Und eben dieses Eingebundensein hört man ihrem Album „In Between“ deutlich an.

Das unbestimmte Etwas

Doch wie sich das nun genau anhört, ist nicht so leicht zu bestimmen. Gewiss, es gibt diesen Hauch von Jazz, der den gepflegten Charme des Albums unterstreicht. Es gibt diese Note HipHop, durch die deutlich in den Vordergrund gemischten Beats. Dank einiger Gesangseinlagen gibt es natürlich auch noch erkannbare Spuren von Soul. Wer danach sucht, wird Schnipsel von Bossa Nova und Afro-Funk finden, auch etwas Bebop-Rudimente, und, wer weiß, vielleicht sogar noch letzte Reste von House. Überhaupt werden gründliche Suchende nicht mehr aus dem Finden herauskommen, weil „In Between“ voller Fährten, Anhaltspunkte und Verweise steckt, die allerdings auf nichts anderes verweisen als auf das Album selbst. Hatten sie einmal eine Bedeutung, was durchaus anzunehmen ist, so haben Jazzanova sich ihrer gründlich entledigt, um sie in ihren universellen Club-Lounge-Sound einzubauen, der keine regionalen Gegebenheiten und Codierungen mehr kennt; kein Berlin, wo der Sound letztlich entsteht, kein Rio, New York, Tokio, keinen Jazzkeller und keinen Club. Die Ortlosigkeit des Sounds passt zur gewissen Gesichtslosigkeit seiner Urheber: „In Between“ kennt nur Plattensammlungen und Archive, und die sind so umfangreich und groß, dass das eigentlich nichts weiter zu sagen hat. Der Sound ist bestenfalls schwedisch: So, wie Abba die Popmusik der 70er-Jahre von sämtlichen Bezügen befreiten, um auf diese Weise einen perfekten Hit nach dem anderen auf den Weltmarkt zu werfen, so arbeiten sich auch Jazzanova durchs Archiv.

Das muss nichts Schlechtes sein: Tatsächlich ist „In Between“ sogar brillant, makellos, fehlerlos, einwandfrei, ausgereift und vollkommen in seiner Art. Es gibt nichts, was man dem Album vorhalten könnte, kein einziges der insgesamt 17 Stücke fällt aus dem Rahmen, alles sitzt, passt, wackelt und hat Luft. Dialektisch gedacht ist diese Stärke allerdings auch eine Schwäche. Denn nach über einem halben Jahrhundert Popmusik weiß man, dass auf jede gute Platte mindestens ein Stück gehört, das miserabel ist; so richtig saublöd, peinlich und komplett misslungen. Ein Stück, das den Unterschied zwischen toll und schlimm schon auf ein und demselben Album deutlich macht, das zeigt, dass sich die Macher daran verhoben haben, weil sie zu viel wollten oder zu wenig, dass sie einfach keine Lust hatten. Ein Stück wie „Ob-La-Di, Ob-La-Da“ vom „White Album“ der Beatles, wie „Thriller“ von Michael Jacksons „Thriller“ oder „T.N.T.“ von AC/DCs „High Voltage“. Aber so ein Stück wird man auf „In Between“ nicht finden. Überhaupt wird man auf dem Album kein einziges Stück finden, das als besonders bemerkenswert hervorzuheben wäre. Gut, das erste Stück ist, wie anfangs erwähnt, ziemlich bemerkenswert, was aber auch daran liegen könnte, dass es das erste Stück ist. Von dort klingt das Album wie aus einem Guss.

Dabei kann man allerdings nicht sagen, dass sich die Stücke alle gleich anhören. Man könnte allerdings sagen, dass sie sich anhören, als hörten sie sich gleich an. Sie sind sich also nicht ähnlich, sondern erwecken nur den Eindruck von Ähnlichkeit. Hört man allerdings genauer hin, löst sich die vermeintliche Ähnlichkeit jedoch augenblicklich auf. Das liegt zum einen an den Gastmusikern – unter anderem Ursula Rucker, Rob Gallagher, Hawkeye Phanatic, Vikter Duplaix, Clara Hill und David Friedman –, aber auch an der Komlexität der Kompositionen, die streckenweise derart komplex geraten sind, dass ihre (schon wieder dialektisch!) Komplexität nicht weiter auffällt und aufgrund fehlender Ecken und Kanten ins Gefällige kippt. Jeder kann diese Platte hören, fast alle werden ihren enormen Gebrauchswert schätzen, ihre unauffällige Eleganz, ihre Könnerschaft, ihr Kunst.

Unschuld vor dem Hype

Doch so viel Kunstfertigkeit will natürlich verdaut werden. So viel Geschmack macht misstrauisch – oder, wie das Magazin de:bug durchaus wohlwollend schrieb: das Album sei „die Bibel aller Nicht-Im Stehen-Pinkler (und das sind doch wohl alle)“. Über Sätze wie diese können können Jazzanova zwar lachen, den eingebauten kleinen Witz verstehen sie allerdings nicht. Sie verstehen auch nicht, dass man ihre Musik für aufdringlich stilvoll hält, dass man ihnen unterstellt, sie produzierten den Sound der Agenturen, der neuen Mitte, der Cocktailbars und Lounges und darüberhinaus den Sound für diejenigen, die eigentlich keine Musik hören, aber in Magazinen wie Wallpaper, der Face oder dem ID gelesen haben, Jazzanova seien der „Must Buy Of The Month“.

Man muss ihnen ihr Unverständnis glauben. Sie kennen keine Strategien, sie kennen nur ihre Archive. Sie haben sich über all die Jahre in eine Plattensammlerwelt hineingefuchst, in der Trends und Moden schon lange keine Rolle mehr spielen. Stattdessen haben sie Wissen angehäuft und aus diesem Wissen eine Platte gemacht. Und diese Platte, die ist gut.

Jazzanova: „In Between“ (Jazzanova Records/PP Sales Forces)