Freiheit der See – ahoi, ade?

■ Die hohe See wird zunehmend für industrielle Nutzungen interessant – Konflikte sind programmiert. Jetzt soll das Völkerrecht nachgebessert werden

Andree Kirchner ist Völkerrechtler bei der Gesellschaft für Angewandten Umweltschutz und Sicherheit im Seeverkehr (GAUSS) und Organisator der Internationalen Konferenz über Meeresumweltrecht (ICMEL), die gestern in Bremen zu Ende ging.

taz: Verglichen mit der staatlichen Regelungswut an Land gilt die hohe See fast als rechtsfreier Raum. Ist dem so?

Andree Kirchner: Nein. Sicherlich gilt die „Freiheit der hohen See“. Das ist allerdings nicht zu verwechseln mit „rechtsfreier Raum“, denn auch hier gibt es feste Regeln. Das Seerechtsübereinkommen von 1982 ist immerhin das umfassendste völkerrechtliche Regelwerk überhaupt. Trotzdem: Die hohe See ist ein Bereich, der sehr ungern angefasst wird. Es gibt Lü-cken, gerade im Umwelt-Bereich.

Welche Probleme werden vom Seerecht heute erfasst?

Das Seerechtsübereinkommen ist eine Art Dach über verschiedenen internationalen Verträgen, auf die es dann verweist. Die betreffen dann zum Beispiel den Schutz küs-tennaher Gewässer, die Sicherheit im Schiffsverkehr oder ganz konkret die Verklappung von Abfällen auf hoher See.

Aber diese Regelungen gelten doch nur, wenn die einzelnen Staaten das jeweilige Abkommen auch ratifiziert haben.

Das ist im Völkerrecht immer so – mit wenigen Ausnahmen: Das so genannte Völkergewohnheitsrecht ist auch auf hoher See für alle rechtsverbindlich.

Die Meere werden zunehmend für die unterschiedlichsten industriellen Nutzungen interessant. Muss das Seerecht deswegen erweitert werden?

Sicherlich, denn als das Seerechtsübereinkommen in den 1970er-Jahren entwickelt wurde, sind da zwar schon Dinge geregelt worden, die erst heute langsam aktuell werden. Der Tiefseebergbau etwa: Der findet bisher nur vereinzelt statt, weil er derzeit aus ökonomischer Sicht noch nicht interessant genug ist. Aber natürlich sind bei den Verhandlungen damals auch viele Dinge noch nicht angesprochen worden, von denen man heute sagen kann, dass sie in Zukunft relevant werden.

Zum Beispiel?

Die Frage nach Schutzgebieten auf der hohen See beispielsweise. Können da bestimmte Freiheiten, die sich über Jahrhunderte etabliert haben, in Frage gestellt werden, oder nicht? All das ist im Moment noch unklar. Es soll und muss aber geregelt werden, damit wir den neuen Problemen, die sich jetzt erst auftun oder zeigen, auch begegnen können.

Was wird denn aktuell diskutiert?

Recht brisant ist derzeit etwa die Frage, inwieweit man eigentlich die sogenannte Flaggenstaatskontrolle heute noch vertreten kann, ob es also sogenannte „Billigflaggen“ mit sehr niedrigen Sicherheits- und Arbeitsstandards überhaupt noch geben darf, und ob Reeder ihre Schiffe einfach „ausflaggen“ dürfen, um den höheren heimischen Standards zu entkommen. Da wird diskutiert, wie man dem begegnen kann. Oder: Inwieweit können bestimmte naturwissenschaftlich interessante Gebiete völkerrechtlich geschützt werden?

Von der Unterzeichnung des Seerechtsübereinkommens 1982 bis zu seinem Inkrafttreten 1994 dauerte es zwölf Jahre. Wie groß sind die Chancen, dass sich weitere Regelungen für die hohe See in absehbarer Zeit überhaupt durchsetzen können?

Das ist schwer zu prognostizieren. Es gibt Sachen, die bereits in fünf Jahren abgeschlossen werden können. Andere brauchen sicherlich doppelt so lange, gerade wenn bestimmte alt-etablierte Prinzipien in Frage gestellt werden sollen.

Regelungen sind schön und gut, wenn sich jeder daran hält. Gibt es denn überhaupt Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten?

Die einzelnen Abkommen enthalten natürlich auch Umsetzungsmaßnahmen. Zum Teil sind da die Küstenwachen und die Wasserschutzpolizei zuständig.

Aber muss man mit Sanktionen rechnen, wenn man auf hoher See gegen Regelungen verstößt?

Es gibt den neuen Internationalen Seegerichtshof in Hamburg. Der befasst sich ganz explizit mit Fällen zum Meeresbereich. Dort gibt es auch eine eigene Umweltkammer.

Wer also illegal Abfälle auf hoher See verklappt, könnte dort angezeigt werden?

Salopp gesprochen: ja.

Bedeuten weitere Regelungen das Ende der „Freiheit der hohen See“?

Ich will es mal anders formulieren: Die „Freiheit der hohen See“ ist ja gerade kein Hinderungsgrund für die Nutzung, auch die industrielle Nutzung der See, sondern sie behindert eigentlich einen effektiven Umweltschutz. Die Frage ist also: Können wir uns heute aus Umweltgesichtspunkten eine solche „Freiheit“ überhaupt noch leisten?

Fragen: hoi