Kindeswohl als örtliche Angelegenheit

Umgangsrecht für nichteheliche Väter bleibt umstritten: Bundesregierung akzeptiert Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte nicht. Jetzt muss die Große Kammer des Straßburger Gerichts entscheiden

FREIBURG taz ■ Die Bundesregierung will ein für nichteheliche Väter günstiges Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht akzeptieren. Im letzten Oktober stärkte der EGMR das Umgangsrecht der Väter mit ihren Kindern. Hiergegen hat jedoch Justizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) Rechtsmittel eingelegt.

Manfred Sommerfeld und Asim Sahin sind zwei Väter, die ihre nichtehelichen Kinder nicht mehr sehen durften, da ihnen die Mütter nach der Trennung den Zugang verweigerten. Auch vor deutschen Familiengerichten konnten sie kein Umgangsrecht durchsetzen, denn auch die Kinder wollten ihre Väter nicht treffen.

In diesen deutschen Entscheidungen sah der Straßburger Gerichtshof allerdings eine Verletzung des „Rechts auf Familienleben“, das in der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert ist. Die deutschen Gerichte hätten sich mehr Mühe geben müssen, die „wahren Wünsche des Kindes“ herauszufinden. Im einen Fall hätte das Familiengericht in Erwägung ziehen müssen, nicht nur eine Sachverständige, sondern auch das (fünfjährige) Kind selbst anzuhören. Im anderen Fall war das (dreizehnjährige) Kind zwar vom Gericht gehört worden, hier forderte der EGMR aber ein ausführliches Sachverständigengutachten. Beide Väter erhielten rund 50.000 Mark Schadensersatz.

Diese Straßburger Entscheidungen, die von einer siebenköpfigen Kammer mit jeweils fünf zu zwei Richterstimmen gefällt wurden, will die Bundesregierung nicht akzeptieren. Sie hat daher beantragt, die Fälle vor der 17-köpfigen Großen Kammer erneut zu verhandeln. In diesen Tagen hat Straßburg den Antrag akzeptiert, weil die Fälle „schwerwiegende Fragen“ der Auslegung der Konvention beträfen. Ein äußerst seltener Vorgang. Offiziell geht es dem Justizministerium nicht um das Umgangsrecht der Väter. Vielmehr wird kritisiert, dass der EGMR den Spielraum deutscher Gerichte zu sehr einschränke. Zur Begründung wird auf einen Aufsatz von Ernst Benda, dem Expräsidenten des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), verwiesen. „Was dem Wohl des Kindes dient, bedarf der Beurteilung vor Ort“, argumentiert Benda in seiner Stellungnahme. Das Straßburger Gericht sei dagegen „fern vom Geschehen“ und seine Urteile hinterließen ein „Gefühl der Unberechenbarkeit“.

Der Gerichtshof solle, empfiehlt Benda, künftig nur noch bei „objektiver Willkür“ einschreiten. In den Fällen Sommerfeld und Sahin könne Willkür aber schon deshalb nicht vorliegen, weil das BVerfG die Klagen der Väter bereits geprüft und abgelehnt habe.

Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wird voraussichtlich noch in diesem Jahr neu verhandeln und entscheiden.

CHRISTIAN RATH