Die Weltflucht verändert die Welt

Und die Benutzeroberfläche bestimmt das Bewusstsein: Der Berliner Schriftsteller Tobias Meißner und der Frankfurter Medienwissenschaftler Mathias Mertens haben ein Buch über die Kulturtechnik des Computerspielens geschrieben

von AXEL WERNER

Wenn es nach Tobias Meißner beziehungsweise seinem letzten Roman „Neverwake“ geht, sind im Berlin einer nahen Zukunft Computerspiele das hypermoderne Update antiker Gladiatorenkämpfe. „Neverwake“ ist der wachkomatöse Zustand, in dem das Bewusstsein des Computerspielers völlig in den Cyberspace des Spieleuniversums absorbiert ist; ein Phänomen, das wohl jeder ansatzweise kennt, der schon mal am Computer oder der Videospielkonsole eine Nacht durchgemacht hat. Irgendwie auch davon handelt das jüngst erschienene Sachbuch, das der Berliner Romancier mit dem Frankfurter Medienwissenschaftler Mathias Mertens geschrieben hat: „Wir waren Space Invaders – Geschichten vom Computerspielen“ heißt es und ist, gelinde gesagt, super.

Dies ist allem sonstigem Achtzigerjahre-Hype und Pixel-Retro-Ästhetizismus zum Trotz keine Jugenderinnerungsliteratur einer Generation C64, die nach den Generationen X, Golf, Ally, SMS et altera noch zu ihrem Recht kommen wollte. Es geht in Space Invaders also nicht bloß um eine Reihe von Dingen, die einem irgendwie ans Herz gewachsen sind, sondern vielmehr um Tätigkeiten, ohne die einfach nicht mehr auszukommen ist; es handelt von einer Kulturgeschichte der Computerspiele genauso wie von der Kulturtechnik des Computerspielens. Dabei wendet sich das Buch an jeden, der Videospiele liebt, der mit ihnen nur irgendwie in Berührung gekommen ist, oder den vielleicht einfach nur interessiert, was an der ganzen Sache dran ist. Erzählt wird hier die Geschichte einer Weltflucht, die die ganze Welt verändert hat.

Tatsächlich suggeriert Tobias Meißners Ein-Zimmer-Residenz in Neukölln ein wenig das Bedürfnis nach Gegenrealität. Doch während sich unter dem Fernseher die Playstation-Spiele stapeln, verrät der zwölf Jahre alte Atari, auf dem Meißner seine Texte schreibt, „das Ding ist noch nie abgestürzt und außerdem garantiert abhörsicher“, sogar einen leichten Technikskeptizismus. Und überhaupt sollte der Ansatz, 20 Jahre eigener Computerspiel-Erfahrung und alles, was dazu schon immer mal zu sagen war, in eine profunde kulturwissenschaftliche Analyse zu packen, den Verdacht mangelnden Reflexionsvermögens gar nicht erst aufkommen lassen. Dass das Autoren-Duo dabei für „Space Invaders“ nur ein Jahr Entwicklungszeit benötigte, liegt wohl daran, dass Lieblingsthemen eben einfach besser von der Hand gehen. Wie Meißner trefflich bemerkt: „Zu zweit ein Buch zu schreiben ist wie Tetris: Es muss passen.“

Die Erzählung vollzieht sich also auf zwei unterschiedlichen Levels: Während Mertens chronologisch linear und inhaltlich ausführlich die Geschichte der Computerspiele von den Fünfzigerjahren bis zur Gegenwart entfaltet, unterzieht Meißner in den Zwischenspielen der Kapitel Themen wie Virtualität, Kontrollwahn oder Survival Horror einer essayistischen Kurzanalyse. Auf diese Weise kann man nachvollziehen, wie sich die Computerspiele vom Spin-off der Militärtechnik bis zum Supersegment der Unterhaltungsindustrie verselbstständigt haben, erfährt von Aufstieg und Sturz solcher Imperien wie Atari, Nintendo oder Infocom, während gleichzeitig die Struktur der Psyche des Computerspielers und die Strukturierung der Welt durch das Spielen am Computer erklärt wird. Und ebenso, wie beim Zocken nebenbei die an den Spielen dran hängende Technik in den Lebensraum der jugendlichen Zocker einzog, wird der Videospiel-interessierte Leser ganz en passant in die Welt der Medien- und Kulturtheorie eingeführt. So sind Foucault und McLuhan endlich mal zu etwas Vernünftigem zu gebrauchen, indem man ihre sonst eher abstrakten Theorien einfach auf die eigenen Lieblingsspiele anwendet, wo sie plötzlich und völlig einleuchtend ihren Sinn offenbaren. Mit anderen Worten: Beste Cultural Studies, dazu so unterhaltsam, wie es nur Bücher sein können, die von echten Fans geschrieben sind.

Tatsächlich bestand Meißner zufolge die Arbeit an „Space Invaders“ zu 95 Prozent aus purem Enthusiasmus. „Die Milliarden Filmbücher, die es gibt, sind ja auch von Leuten geschrieben, die das Kino lieben. In Deutschland wurde das Thema Computerspiele bisher aber höchstens von ältlichen Soziologen behandelt, denen das Medium selbst überhaupt nichts bedeutete. Dass wir über etwas schreiben, was uns fasziniert, ergab vielleicht eine etwas intuitive Herangehensweise, deshalb ist es auch schwer zu bestimmen, ob das Ergebnis jetzt medienwissenschaftlich, kulturphilosophisch oder wahrnehmungsphänomenologisch einzuordnen ist.“

Entsprechend bewegt sich das Unternehmen auf tausend miteinander verlinkten Plateaus. Das fängt an mit dem prägnanten Statement: „Der C64 war kein Computer. Er war ein Lifestyle-Produkt.“ Was man mit diesem knubbeligen Brotkasten erwerben konnte, war also nicht zuletzt ein Instrument der Distinktion, das genau so einen Unterschied markierte wie der zwischen Duran Duran und AC/DC: Der Heimcomputer war ein Lebensentwurf. Zunächst ereignete sich dieses Leben hauptsächlich im reinen Imaginationsraum, den die Computerspiele eröffneten – und wo man tausend Tode sterben konnte. Mit fortschreitender Entwicklung von Hard- und Software aber setzen sich auch außerhalb der virtuellen Spielewelten weit reichende Veränderungen von allgemeinen Wahrnehmungs-, Handlungs- und Lebensgewohnheiten durch. Sei es, dass sich alle Objekte der realen Welt plötzlich in Tetris-Bausteine verwandeln, dass das Adventure-geschulte Try-and-Error-Verfahren zur universalen Problemlösungsstrategie wird, oder dass man ohne Office-Kenntnisse zum Arbeitsamt gar nicht erst hinzugehen braucht.

Damit fangen die Geschichten des Computerspielens an, sich über den individuellen Horizont weiter und immer weiter hinaus zu bewegen. Die Bedeutung eines Spiels wie etwa Missile Command, in dem man US-amerikanische Küstenstädte vor ihrer Auslöschung durch Interkontinentalraketen bewahren musste, kann nur im Kontext der Ära von Nato-Doppelbeschluss und SDI-Projekt erschlossen werden. Hermeneutisch gezirkelt funktionieren Computerspiele so als universaler Wissens- und Erfahrungsspeicher, so wie die Tomb-Raider-Serie zwischen „Baywatch“, „Indiana Jones“, „Titanic“ und den „X-Files“ alle nur denkbaren Mythen des Alltags in sich integriert hat – und umgekehrt Lara Croft selbst zum Pop- und Filmstar wurde.

Solche intermedialen Fusionen öffnen das Tor zu bislang unbekannten Dimensionen. „Jemand, der nur einmal in seinem Leben so etwas wie Final Fantasy gespielt hat“, so Meißner, „hat schon etwas erlebt, wovon herkömmliche Kinogänger sich gar kein Bild machen können.“

Nach jahrzehntelanger Evolution scheinen sich die Computerspiele in den Zeiten moderner Hi-End-Technisierung zum neuen Mastermedium zu erheben: Die durch Malerei, Literatur und Film vorgelegten Entwicklungsstadien sind jetzt allesamt durchlaufen, assimiliert und überhöht, die Zukunft liegt in der Matrix virtueller Alternativuniversen der International Gaming Machines.

Andererseits übertrumpfen die interaktiven Multimediaspektakel der Computerspiele nicht nur die herkömmlichen Medien, es muss auch zwischen herkömmlichen Rezipienten und Computerspielern unterschieden werden. Die Benutzeroberfläche bestimmt das Bewusstsein. Paul Virilio und Jean Baudrillard mögen ein Liedchen davon singen. Angefangen hat aber alles mit Pong und Pac-Man.

Neben aller Theorie kommen auch die Referenzen an den eigenen Oldschool-Nerdism nicht zu kurz. Eine Revue der coolsten Spiele von Summer Games bis Doom fehlt ebenso wenig wie Anekdoten um den legendären Quickshot-II-Joystick (mit Mikroschaltern!!!) oder die Erzählung diverser videospielhistorischer Mythen mitsamt ihrer Aufklärung. Dabei verlieren sich die Autoren aber nie im kryptischen Insider-Sprech einer Kellerkinder-Subkultur; vielmehr lassen gerade diese exemplarischen Passagen verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass Super-Nerds wie Bill Gates die Weltherrschaft an sich gerissen haben – während diejenigen, von denen sie damals auf dem Schulhof immer verprügelt worden sind, heute zu den Modernisierungsverlierern gehören.

Eigentlich gibt es an „Space Invaders“ nur zwei Dinge zu bemängeln. Erstens fehlt ein Register. Das ist ähnlich ärgerlich, wie wenn man mangels Passwortfunktion ein ganzes Spiel noch einmal durchzocken muss, obwohl man vorher bereits beim Endgegner war. Zweitens gibt es einfach zu wenig Levels. Will meinen, irgendwann ist das Buch zu Ende, dabei müsste man eigentlich noch tausend weitere Kapitel einfügen: über das Kettensägenbenzin bei Maniac Mansion zum Beispiel oder über George Clintons „Computer Games“-Album oder über das Verhältnis von Sim City, Nietzsche und urbaner Stadtplanung. Ein gedrucktes Buch ist nun mal leider kein Open-Source-Produkt.

Mathias Mertens / Tobias O. Meißner: „Wir waren Space Invaders – Geschichten vom Computerspielen“. Eichborn, Frankfurt a. M. 2002, 192 S., 17,90 €