Pension Paradies

Wo die Bungalows gläserne Fußböden haben und das Zimmermädchen mit dem Kanu naht: Zwischen Tahiti und Bora Bora wird der Südseetourist mit seinen Träumen vom irdischen Paradies konfrontiert

von STEFAN SCHOMANN

Alle Welt hält Bora Bora für das Paradies auf Erden. Doch wer kennt schon die Telefonnummer? 677 553, Pension Le Paradis. Vor fünf Jahren machte Pahuiri Tehapai sich selbstständig, nachdem er als Dachdecker im Club Med einen gewissen Überblick über das Gewerbe erlangt hatte. Auf dem Motu Paahi, einer vorgelagerten Korallenbank, hat er nun einen Miniclub mit sieben Hütten aufgemacht – eine jener typischen Familienpensionen, wie sie mittlerweile überall auf den Gesellschaftsinseln zu finden sind. Was den Hausherren und -damen an Erfahrung fehlt, machen sie durch ihr Naturtalent zur Gastfreundschaft wieder wett. „Unser Leben läuft weiter wie zuvor“, meint Tehapai, „nur dass jetzt auch die Gäste zur Familie gehören.“ Die spartanischen Kabinen – innen ein Bett und eine Glühbirne – zählen mit sechzig Euro die Nacht noch zu den billigsten Unterkünften der Insel. Das andere Ende markiert das legendäre Hotel Bora Bora, dessen erlauchte Strandvillen das Zehnfache kosten.

Französisch-Polynesien, das hört sich ziemlich bürokratisch an. Tahiti dagegen, das klingt nach Südseetraum, nach Ferne und Verheißung. Die Hauptinsel leiht oft dem ganzen Archipel den Namen. Lange Zeit als reine Luxusdestination gehandelt, hat sich das Spektrum der Hotellerie in den letzten Jahren beträchtlich erweitert. Der Südseetraum geht in Serie: Willkommen im professionellen Paradies – Einlass für jedermann.

Nach dem weitgehenden Rückzug der Militärs – die Atomtests auf Moruroa wurden 1996 eingestellt – hat sich Französisch-Polynesien erfolgreich dem Tourismus verschrieben: Im vergangenen Jahr machten sich mehr als zweihunderttausend Meuterer des Alltags auf die weite Reise nach Tahiti. Ganze Dörfer aus kunstvoll geflochtenen Hütten ragen auf Stelzen aus dem Meer, verbunden durch ein Labyrinth aus Stegen und die gemeinsame Verheißung: Glück. Amphibische Heime, nicht mehr Haus und noch nicht Schiff. Sie sind unter Einsatz heimischer Materialien (Blätterdächer, Hartholz) und Techniken (Flecht- und Schnitzwerk) in einer Art neopolynesischen Stil gehalten, freilich derart aufwendig, wie es Tahitianern nicht im Traum einfiele. Fenster und Spiegel ermöglichen eine ausgeklügelte Lichtregie, unter der verglasten Bodenluke schweben Fische wie auf einem Bildschirmschoner.

Polynesien – eine tropische Inselwelt, fern und zerstäubt wie die Plejaden. Kaum größer als Luxemburg, aber verstreut über die Fläche Europas. Vor etwa zweitausend Jahren wurde es als letzte große Weltgegend vom Menschen in Besitz genommen. Als schließlich die weißen „Entdecker“ aufkreuzten, staunten sie vor allem darüber, dass nirgendwo mehr niemand war. Erst auf ihrer dritten Weltreise verschlug es James Cook und seine Mannen auf eine isolierte Inselgruppe im äußersten Süden des Indischen Ozeans, die noch menschenleer war: die Kerguelen. Sein Schiffsmaler war es so gewöhnt, die Landungsszenen mit Eingeborenen auszustaffieren, dass er an ihrer Stelle Pinguine als Empfangskomitee antreten ließ.

Theorien über die Besiedelung des Pazifiks gibt es viele, Beweismittel nur wenige. Unter der Ägide des Kulturwissenschaftlers Serge Dunis hat die Universität von Papeete einen Studiengang eingerichtet, der sich mit der Geschichte des Entdeckens, des Reisens und der Zivilisationen befasst. „Die Polynesier waren phantastische Navigatoren und kundige Seeleute“, schwärmt Dunis. „Sie lasen im Meer wie in einem offenen Buch.“ Gestirne, Strömungen, Winde und Wolken, Vögel und Fische – vielerlei Zeichen bestimmten ihren Kurs. Lange hat man sich ihre Exkursionen als heroische Seefahrten vorgestellt oder als tragischen Exodus ins Ungewisse. Heute neigt man eher der Auffassung zu, dass sie oft en passant Neuland entdeckten. „Die Fischer fuhren ohnehin weit hinaus, manchmal eben noch weiter, und dann noch weiter.“ Bis sie irgendwann umkehrten – oder aber Land sichteten.

Bereits die frühen polynesischen Siedler, erzählt Dunis, hätten Pfahlbauten errichtet, meist nahe an den fischreichen Pässen zwischen Lagune und Ozean, wohl auch, um von Mücken und Malaria verschont zu bleiben. Heute feiert ihr amphibischer Lebensstil fröhliche Urständ. „Das beste an unseren Bungalows ist ein Loch in ihrem Boden“ – mit diesem kecken Spruch begann Anfang der sechziger Jahre der moderne Tourismus in Polynesien. Drei kalifornische Jungs waren nach Moorea gesegelt, hatten den Mädchen den Hof gemacht und eine Vanilleplantage in den Sand gesetzt. Ihr einziges Kapital war das Riff vor ihrem schmalen Strand. Sie stellten eine Art Blockhütte auf Stelzen darüber, verglasten ein Geviert unter dem Couchtisch, tauften ihr Hotel Bali Hai und warteten auf Touristen. „Bingo! Sie kommen bis heute.“ Muk McCulloms Stammplatz ist der Tresen, dort schenkt er noch fast jeden Tag Geschichten aus. Auch wenn er und Jay längst über siebzig sind und Kelley bereits tot, werden sie ewig die Boys vom Bali Hai bleiben.

Das Hotel liegt unweit der Mündung von Cook‘s Bay, einem überwältigend schönen, von Basaltwänden eingefassten tropischen Fjord. Hier soll James Cook 1777 seine Schaluppen zu Wasser gelassen haben. In Wahrheit geschah dies zwar in der Bucht nebenan, doch diese hier wirkt noch malerischer. Dort, wo Cooks Leute einst Eisen, Glas, Tabak und Stoffe feilboten, steht heute ein Supermarkt. Er mutet wie einer der alten Intershops an, ein Schlaraffenland im Container. Einkaufen, erklärt der Taxifahrer, sei eine Lieblingsbeschäftigung der Tahitianer: „Wir fischen im Supermarkt.“ Sie bewähren sich als begnadete Konsumenten, großzügig und unmäßig. Es gehört zum guten Ton, über seine Verhältnisse zu leben.

Seit Cooks Tagen hat Moorea sich als Anlaufstelle für Pioniere bewährt. Zum touristischen Urgestein zählen mittlerweile auch Olivier Briac und sein Künstlerdorf Tiki Village. Als Choreograph erarbeitete Briac einst in Paris glanzvolle Revuen, betreute einmal auch eine Produktion im Ostberliner Friedrichstadtpalast – „das war exotisch!“. Vor zwanzig Jahren ließ er sich dann auf Moorea nieder. Er stürzte sich mit derartiger Inbrunst auf die polynesische Kultur, dass er bald als „der weiße Wilde“ verschrien war. Fasziniert von den traditionellen Tänzen, formte er mit jungen Einheimischen ein virtuoses Ensemble. „Viele kamen von der Straße, waren kulturell entwurzelt. Durch die Arbeit und die Gemeinschaft fanden sie neuen Sinn.“ Die ersten Jahre aber hätten sie Sand gegessen, stöhnt Briac. Als Wegelagerer hielt er schon mal Busse an, um die Touristen zu ihrem Glück zu nötigen.

Vierzig der sechzig Mitwirkenden leben in dem dichtgedrängten Hüttendorf. Tagsüber kann man ihnen beim Schnitzen, Flechten, Malen zusehen und sich tätowieren lassen. Abends schleifen sie noch den Schüchternsten zum Tanz, als Belohnung wartet das im Erdofen zubereitete Buffet. Den Höhepunkt bildet der Kriegstanz im Amphitheater am Strand. Von wilden Rhythmen angestachelt, lehren kampfeslustige Jünglinge die Weißen noch einmal das Fürchten wie zu Cooks Zeiten. Liebreizende Mädchen aber besänftigen sie zuletzt. Wahrhaftig ein Heidenspektakel. Anders als die Tikis, die hölzernen oder steinernen Götzen, haben die nach dem Sittengesetz von 1820 „lasziven und dämonischen Tänze“ die Missionierung einigermaßen glimpflich überstanden – Tänze kann man nicht ins Meer werfen.

In der Bucht des Tiki Village wiegen sich einige Hausboote in der nächtlichen Brise, schwimmende Lauben aus Bastmatten und Palmwedeln. Das Flaggschiff erwartet die nächsten Flitterwöchner, das Zimmermädchen sieht per Kanu nach dem Rechten. Hochzeitsreisen bilden eine Schlüsselindustrie für Polynesien; viele Hotels haben ganze Choreographien dafür entwickelt. Da kommt das Brautpaar im Nachen angefahren und zeigt stolz seinen Trauschein auf Tapa vor, dem traditionellen Rindenstoff. Da hängt sich die Hochzeitsgesellschaft wechselseitig Blumenkränze um und vollführt einen ozeanischen Reigen. Mondscheindinner, Champagnerfrühstück und das mit Blüten überhäufte Hochzeitsbett sind im Arrangement inbegriffen.

In manchen Hotels stellen Flitterwöchner die Hälfte aller Gäste. Jedes Paar eine Insel: Je frischvermählter sie sind, desto entrückter wirkt ihr Blick, desto zärtlicher ihr Gespräch. Jene Pärchen jedoch, die schon zwei, drei Wochen hinter sich haben, erscheinen deutlich nüchterner und schlurfen auch schon mal getrennt zum Essen. Stress im Paradies kann doppelt belastend sein, Enttäuschung doppelt schmerzlich.

Mit ihrer wilden, wie eine Fieberkurve gezackten Silhouette stiehlt Moorea Tahiti die Schau. Während die große Schwester sich abarbeitet und für alles Lebensnotwendige sorgt, verdreht die kleine aller Welt den Kopf. Zu Unrecht steht Tahiti im Schatten der anderen Ferieninseln, benutzen die meisten Besucher es lediglich als Transitstation. Dabei kann man durch seine üppig grünen, von Grotten und Wasserfällen durchsetzten Bergwälder herrlich wandern. Doch dass es hier mit Papeete so etwas wie eine Großstadt gibt, wird ihm zum Vorwurf gemacht – statt die Gelegenheit zu nutzen, polynesische Wirklichkeit zu erleben.

So manche Örtlichkeit hier bietet mindestens so viel Exotik wie das Tiki Village. Der McDonalds Drive-in etwa, wo Tahitis Jeunesse dorée in tiefergelegten BMWs vorfährt, Arme, Köpfe, Beine aus dem Fenster gestreckt, die wummernden Lautsprecher bis zum Anschlag aufgedreht. Auch Träume verhalten sich antipodisch: Die Urlauber phantasieren eine heile Südseewelt, die Einheimischen eine ideale Konsumgesellschaft. Rollentausch, Wunscherfüllung, Kreuzung der Kulturen.

Tahiti … allein das Wort wirkt aphrodisisch, beschwört einen in der ganzen Welt geläufigen Mythos herauf. Curaçaoblaue Lagunen, camparirote Sonnenuntergänge, schwelgende Südseekantilenen. Ein Ort jenseits des Realitätsprinzips, eine Insel der Seligen, bewohnt von sanften, sinnenfrohen Menschen. Ein tropisches Arkadien unter einem Himmel, der keinen Winter kennt.

Einer seiner folgenreichsten Propagandisten war Paul Gauguin. Als Prototyp des Aussteigers lebte er von 1891 bis zu seinem Tode 1903 erst auf Tahiti, dann auf den Marquesas. Seine Bilder beschwören die Anmut und Unschuld der Tahitianer, deren Lebenspoesie allein schon aus den Titeln spricht: „Liebt euch, und ihr werdet glücklich sein“, „Komm her!“ „Wohlgeruch“ „Danksagung“, „Nirvana“. Begeistert schreibt er an einen Freund: „Die glücklichen Bewohner eines unbeachteten Paradieses in Ozeanien kennen vom Leben nichts anderes als seine Süße. Für sie heißt leben Singen und Lieben.“ Das Zitat klingt wie das Programm zu seinen Bildern. Doch Gauguin hat es geklaut. Hat es dem Vortrag eines Kolonialbeamten entnommen, den er im Katalog zur Pariser Weltausstellung 1889 fand. Das Paradies als Plagiat: der Mythos ist immer schon vorhanden und braucht nur mehr bekräftigt zu werden.

Die Quintessenz dieses Mythos bildet zweifelsohne Bora Bora. Im Zentrum die malerische Felsbastion eines geborstenen Vulkans, der von der fluoreszierenden Lagune und einem Ring aus Korallenbänken umschlossen wird. Rund um diesen Magnetberg der Sehnsucht sind in den letzten Jahren die meisten Wasserbungalows errichtet worden, so dass ganz Bora Bora, nicht größer als Pellworm, zu einer exklusiven Ferienkolonie mutierte. Die fünftausend Insulaner leben beinah ausschließlich vom Tourismus, ob als Bootsfahrer, Haifischfütterer oder Empfangsdamen.

Der Mythos Bora Bora hat seinen Ursprung ausgerechnet im Zweiten Weltkrieg. Die hier stationierten GIs schwärmten nach ihrer Rückkehr vom Zauber der Insel und ihrer Frauen. Der Krieg hatte um die Nachschubbasis einen Bogen gemacht; bei ihrem Abzug hinterließen die Amerikaner tonnenweise Artilleriegerät, rund 130 Babys und den heute mehr denn je frequentierten Flughafen. Einer dieser Marinesoldaten, James Michener, landete mit seinen Südseegeschichten einen Weltbestseller, der auch am Broadway bestens lief. Etwas vom Glanz und Glamour eines Musicals haftet Bora Bora tatsächlich an, es hat sich mittlerweile zum pazifischen St. Tropez entwickelt.

In seinen biographischen Fallstudien „Verdammt im Paradies“ gibt Michener eine bündige Erklärung für die archetypische Faszination der Südsee: „Ganz besonders im Zeitalter der Angst sucht sich der Mensch ein Refugium. Aber schon immer hat er, wenn ihn Sorgen quälten, von Inseln geträumt – vielleicht, weil der kleine Raum einer Insel die Illusion erweckt, hier könne man den Verwicklungen gesellschaftlichen Lebens entgehen oder sie wenigstens unter Kontrolle bekommen. Liegt die gewählte Insel im Südpazifik, so wird die Fluchtidee oft zu wahrer Besessenheit. Wenn sie dazu noch liebliche und freizügige Mädchen zu bieten hat, so wird die Besessenheit leicht zur Monomanie. Sind dann die Mädchen noch Polynesierinnen, so ist der Träumer total verloren.“

Wer vor seiner Hütte im Liegestuhl döst, die Lagune vor Augen und Tony Marshall im Ohr, macht sich keinen Begriff von dem enormen Aufwand, mit dem die Südseeträume erst hergestellt werden müssen. Aus der Ferne mag so ein Palmenhain romantisch anmuten, aus der Nähe erweist er sich als undurchdringlicher Filz aus vermoderten Palmwedeln. Heerscharen von Strandkrabben unterhöhlen den Boden. Sie werden ebenso diskret wie verbissen „behandelt“, um halbwegs gepflegte Anlagen zu erhalten, mit Rasen zwischen den Bäumen und geharktem Sand. Schwindelfreie Gärtner holen die Kokosnüsse beizeiten von den Palmen, damit man ungestraft darunter wandeln kann. Bis vor wenigen Jahren waren auch alte Kühlschränke, Autowracks und Sperrmüll ein vertrauter Anblick. Das hat sich merklich gebessert, die Abhängigkeit vom Tourismus zeigt erzieherische Wirkung.

Kommunen und Landwirtschaft verursachen weit mehr Umweltverschmutzung als die Hotels, die strengen Auflagen unterliegen und ein handfestes Interesse an unversehrter Natur haben. Während sie wie prunkvolle Eingeborenensiedlungen wirken und sich organisch in die Landschaft einfügen, erscheinen die Containerhäuser der Tahitianer als unschöne Fremdkörper. Zwar stellt das Aufstellen der Bungalows, deren Betonsäulen ins Riff gerammt werden, einen massiven Eingriff dar. Andererseits siedeln sich an diesen neuen Strukturen schon bald wieder Korallen an, sind manche Fischgründe nach ein paar Jahren reicher als zuvor, nicht zuletzt, weil die Gäste immerfort Leckerbissen durch den Schlitz im Glasboden werfen. Manche haben im Eifer schon die halbe Minibar verfüttert.

Wo also bleibt das Negative? Auch die häufig geübte Kritik, Tourismus verderbe traditionelle Gesellschaften, trifft hier nicht zu. Was die Kulturen der Südsee aus der Bahn geworfen hat, war vor allem die unbarmherzige Missionierung. Der Tourismus dagegen scheint in vielem das Gegenteil der Mission. Was einst als heidnisch und primitiv verteufelt wurde, himmeln wir heute als ursprünglich an. Aus Sünde ist Verheißung geworden. Während Anthropologen ihre Not haben, noch Dörfer mit einem Erdofen zu finden, lässt jedes bessere Hotel einmal die Woche einen ausheben. Ganze Gewerbe wie das Holzschnitzen oder das Flechten der Pandanusdächer wären ohne die stete Nachfrage der Hotellerie bereits verschwunden. Wer wohnt denn noch in struppigen Hütten und frönt der Liebe? Wer paddelt aus Leibeskräften im Auslegerkanu um die Landzungen und planscht oben ohne in der Lagune? Wir Touristen – die edlen Wilden von heute.

STEFAN SCHOMANN arbeitet als freier Journalist für „GEO“ „Zeit“ und taz