Brötchen mit Adorno

Ulrike Heider erinnert sich an ein ausgeflipptes Leben. Ihr biografischer Entwicklungsroman ist ein schmerzhaftes und authentisches Dokument der wilden Jahre in der Frankfurter Sponti-Szene

von HEIDE PLATEN

Eine Lebensgeschichte, ein autobiografischer Entwicklungs-, ein Schlüsselroman? Das alles ja, aber Ulrike Heiders Buch ist außerdem eines der bisher seltenen authentischen Zeitdokumente der antiautoritären Revolte der späten Sechziger-, der Studentenbewegung und deren Zersplitterung in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Es beschreibt sehr subjektiv die turbulent gelebte und erlittene Geschichte einer jungen Frau mit gut bürgerlicher Erziehung, die von Haus aus nicht das Zeug zu einer positiven Heldin hat.

Ulrike Heider erzählt in der Ich-Form. Sie versucht sich genau zu erinnern, verfremdet die Ereignisse kaum, anonymisiert allerdings die Namen etlicher Personen. Sie konzentriert sich streng auf Zeit und Ort des Geschehens.

Das ausgeflippte Leben selbst, die Zeit schreibt die romanhaften Charaktere vor. Die Fiktion ist real. Da agieren echte Figuren, die wie Adorno reden, wenn sie einfach nur ihr Frühstücksbrot schmieren, Bohemiens, Schwule, Kleinkriminelle, chaotisierende Kiffer und Fixer, ernsthafte Revoluzzer mit der Mentalität von Mathematikstudenten. Sie leben, als spielten sie sich ständig selbst, agieren in einem inner circle, umstellt von Charaktermasken.

Unversehens ist sie in das Zentrum des Sturms geraten, als sie ihr winziges Zimmerchen in einem Frankfurter Studentenheim bezieht. Im Kolb-Heim treffen sich die Intellektuellen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) und später des Revolutionären Kampfes (RK). Der spätere Außenminister Joschka Fischer und der spätere Terrorist Hans-Joachim Klein sind Statisten in Heiders Lebensgeschichte. Sie tendiert zum anarchistischen Flügel der buntscheckigen Frankfurter Sponti-Linken.

Sie ist fasziniert von den Lebensentwürfen der Gemeinsamkeit und Solidarität, der ersehnten Einheit des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens. Wer sich verändert, verändert die Welt. Wer politisch handeln will, kann das nur, wenn er selbst die alten Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft abstreift und die Politik lebt. Heider nimmt sich auch in der unfreiwilligen Komik dieser Versuche nicht aus, ja sie lässt die Leser – manchmal bis zur Schmerzgrenze – teilhaben am eigenen Entwicklungsprozess.

Das Kolb-Heim ist ein Fokus. Heimkinder und Outlaws finden vorübergehend eine Heimat bei den Studenten, das Lumpenproletariat trifft auf das Protestpotenzial der behüteten Nachkriegsgeneration. Ulrike Heider kämpft vehement gegen eine Mieterhöhung für die acht Quadratmeter kleinen Wohnschränke im Studentenheim. Ein junger Arbeiter schreitet zur direkten Aktion, Wände werden einfach durchbrochen, die Kampagne ist ein Erfolg.

Heider zeigt aber auch, wie sich Grenzüberschreitungen in ihr Gegenteil verkehrten: wie Bewusstseinserweiterung zu Drogenmissbrauch, Liebe zu Gewalt, freie Sexualität zum Zwang und die Nähe in der Wohngemeinschaft zum Psychoterror werden konnte. Heiders Leben eskaliert in einem besetzten Haus schräg gegenüber dem Kolb-Heim: „Die meisten der neuen Mitbewohner hassten mich auf den ersten Blick. Noch heute weiß ich nicht genau, warum. Da war aber einer, den sie noch mehr hassten als mich, immer mehr hassen lernten und zum Schluss mit wahnhaftem Hass verfolgten.“

Mobbing, Prügeleien, frustrierende Drogenexperimente machen den Traum schließlich zum Albtraum. Das Haus wird zum randständigen „Sauhaufen“ der Sponti-Szene. Das Bürgerkind Heider versucht vergeblich, Ordnung in das Chaos zu bringen, und harrt dennoch bis zur Obsession aus.

All dies ist schlicht und schnell, wie nebenbei, manchmal witzig, manchmal traurig, manchmal mit verwundertem Rückblick erzählt. An einigen Stellen allerdings misslingt der politischen Autorin das Beschreiben einiger Akteure allzu sehr. Sie bleiben flüchtig und verwaschen, wenn sie nur mit so vagen Attributen wie „niedlich, „ungewöhnliche Erscheinung“ oder „gut aussehend“ versehen werden.

Konterkarierend zu den Frankfurter Kapiteln stehen die über Heiders Leben ab 1988 in New York. Wieder ist sie bei den Underdogs, den Bohemiens, bei Künstlern und Emigranten, den Obdachlosen im Park zu Hause. Sie beißt sich durch. Manchmal scheint sie daran zu leiden, dass sie so recht nicht zu irgendeiner Minderheit gehören kann, weder lesbisch, noch Jüdin, noch mit einem faschistischen Vater geschlagen ist. Sie muss sich selbst fast zwanghaft hinein- und herunterleben. Ihre Welt aber bleibt hier wie jenseits des Atlantiks verrückt genug für ein Dutzend weiterer Romane und Lebensgeschichten.

Ulrike Heider: „Keine Ruhe vor dem Sturm“, 328 Seiten, Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Hamburg 2001, 16,85 €