Die Köpenicker Goldfabrik

Seit vierzig Jahren tüfteln Berliner Ingenieure am Höher, Schneller, Weiter des Sports. In Salt Lake City hat ihre Technik wieder im Hundertstel-Sekunden-Bereich der Olympiade gesiegt. Ein Besuch

von HENNING KRAUDZUN

Die russischen Konstruktivisten hätten es genau so gesagt. Wenn Harald Schaale die Grundidee seiner Arbeit beschreibt, schwärmt der Chef-Tüftler vom „System Mensch–Technik“. Diese Verschmelzung, für die Moskauer Avantgardekünstler der Zwanzigerjahre noch ferne Utopie, ist für die Ingenieure des Berliner „Instituts für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten (FES)“ Arbeitsalltag. Sie forschen an der perfekten Einheit von Mensch und Gerät. Eine Symbiose, die olympisches Gold wert ist. Nicht umsonst schickte der Bob-Sieger André Lange am letzten Salt-Lake-Wochenende gebührenden Dank nach Berlin: „Ohne die FES hätten wir hier nicht gewonnen“, jubelte der Vierer-Olympiasieger. Denn sein Bob samt Kufen stammt aus Köpenick.

Vor allem im Eiskanal, wenn es auf tausendstel Sekunden ankommt, glauben die Sportler fest an dieses System, das im Nanobereich funktionieren muss. Technik als Mythos. 40 neue Geräte baute das FES für den deutschen Rodelverband. Auch Rodlerin Silke Otto beförderten die FES-Kufen letzte Woche zu Gold.

Seit vierzig Jahren existiert die Ostberliner Technikschmiede und hat Know How in zehn Sportarten angehäuft. Mittlerweile ist die Werkstatt kein Staatsgeheimnis mehr, sie genießt vielmehr internationalen Ruf. Großzügig finanziert, durften die sozialistischen Ingenieure damals mit ungewöhnlichen Materialien und Verfahren experimentieren. Schließlich definierte die kleine DDR ihre sportlichen Erfolge auch als politische. Zuerst bekamen Segler und Ruderer hochwertige Boote, damit sie die Weltspitze erobern konnten. In den 70er-Jahren wurde an den Rodelschlitten gebastelt, ein Jahrzehnt später beschleunigte man die Radsportler mit Rädern aus Kohlefasern.

Was die Schöneweider Bastler so revolutionär machte, waren indes nicht nur ihre Materialexperimente. Auch die Messmethoden galten als bahnbrechend. Während die Sportwelt noch die Zeit stoppte, die von den Testpiloten erreicht wurde, rüstete das Institut bereits Geräte und Sportler mit allem aus, was an technischem Messgerät im Ostblock aufzutreiben war. Messen wurde zum Credo. „Messtechnik ist das Fenster, um in die inneren Zusammenhänge des Sports schauen zu können“, formuliert es Harald Schaale.

Seit die FES es vormachte, werden allerorten zum Beispiel Ruderboote verkabelt und vermessen, die Bewegungen der Athleten von Sensoren überwacht. Jeder Ruderschlag wird ausgewertet, ständig der Widerstand im Wasser und die Kräfteübertragung vom Arm zum Riemen überwacht. Dadurch können die Trainer die ideale Sitzfolge in den Teambooten bestimmen oder sehen, wer sich von seinen Mitstreitern nur spazieren fahren lässt. Die Sportler sind dann Marionetten der Technik.

„Ihre Erfolge konnte die DDR nur erringen, wenn bestes Ingenieurwissen auf geniales Sportwissen traf“, sagt Schaale. Aufgabe war es, die Widerstandskräfte um ein paar entscheidende Prozent zu verringern, die Bewegungen um ein Minimum zu optimieren oder das Gewicht um einige Gramm zu reduzieren. Für den Laien war es dann kaum ersichtlich, warum die Athleten aus dem Osten wieder einmal eine Nasenlänge voraus waren, freut sich Schaale. Spektakulär wurde es, wenn Design und Erfolg zusammenpassten. Als Lutz Heßlich 1988 mit seinem futuristischen Karbonrad durch das Velodrom von Soul sauste, wurde er zum Star der internationalen Sportpresse.

An die historischen Leistungen des FES erinnern sich heute aber nur noch die Fachleute. Zum Beispiel daran, dass die Forscher in den 60er-Jahren eine Art Wabentechnologie für den Bau von Segelbooten entwickelten. Oder die Rodelschlitten zu Kunststoffwannen umformten. Diese Neuerungen sind mittlerweile internationaler Standard. Die Wende hat das Spitzen-Institut jedoch nur knapp überlebt. Als sich das FES 1992 als gemeinnütziger Verein umgründete und von den wiedervereinigten Sport- und Fachverbänden finanziert werden sollte, gab es dennoch ein Hauen und Stechen. „Unser Glück war es, dass wir im Einigungsvertrag erwähnt wurden“, sagt Schaale. Von 180 Mitarbeitern zu DDR-Zeiten sind heute nur 50 übrig geblieben.

Zumindest seit anderhalb Jahren haben die verbliebenen Ingenieure und Mechaniker, Designer und Sportwissenschaftler an der Tabbertstraße wieder die besten Bedingungen für ihre Arbeit im Millisekundenbereich. Für über sechs Millionen Euro wurde das Institut nun komplett modernisiert. Von der Idee bis zum fertigen Prototypen kann mittlerweile alles auf vier Etagen produziert werden. Zuvor waren die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen noch in Berlin verstreut. „Nur zum Testen des Strömungsverhaltens müssen wir heute noch nach Dresden oder Potsdam fahren“, sagt Schaale.

Auch wenn die Olympiade heute zu Ende geht, viel Zeit zum Luft holen bleibt den Ingenieuren nicht. Ab März beginnt die heiße Phase der Vorbereitung auf die Sommerspiele 2004, und die Spitzensportler werden sich im FES wieder die Klinke in die Hand geben. „Der Zweijahresrhythmus der Olympischen Spiele lässt kaum noch Spielräume“, seufzt Schaale. Wenn dann noch die Athleten mit unerklärlichen Materialfehlern ankämen, sei das Chaos fast perfekt. „Die haben viel Gefühl im Gesäß“, betont Schaale, daher müssen die Entwickler die Nörgeleien der Sportler ernst nehmen.

Funktioniert alles reibungslos, spricht man im FES von einem „fein abgestimmten Sportler-Geräte-System“. So werden die Kufen für jeden Bob oder jeden Eisschnellläufer millimetergenau zurechtgefeilt. Für jede Bahn und Eistemperatur gibt es zudem Extraanfertigungen. So wie Schaale die Kufen, die „Karbontorpedos“, von Eisschnellläuferin Gunda Niemann-Stirnemann in der Hand wiegt, glaubt man ihm, wenn er sagt: „Das ist die Zukunft!“ Zum perfekten System fehlt nur noch die Läuferin. Doch die hatte ja bekanntlich abgesagt, aus ganz menschlichen Gründen. Die einzige Schwäche des Systems Mensch–Technik.