Philosoph der feinen Unterschiede

Aus kleinbürgerlichem Haus kam Pierre Bourdieu ins elitäre Milieu der Pariser Intellektuellen. Er entlarvte den Geschmack als Instrument der Macht

Bachs „Kunst der Fuge“ – wirkungsvoller als Wasserwerfer und Tränengas

von ANDREW JAMES JOHNSTON

Pierre Bourdieu ist tot. Frankreich hat einen seiner letzten großen Meisterdenker verloren. Bourdieu steht in einer Reihe mit intellektuellen Stars wie Derrida oder Foucault. Und doch war er ganz anders – in Denken und Habitus beinahe ein Anti-Intellektueller. Bourdieu war Soziologe, gar Empiriker, und er bestand darauf, dass ein Denken sinnlos ist, das seine eigenen gesellschaftlichen Bedingungen nicht reflektiert. Dies war seine Größe und vielleicht auch seine Tragik.

Der Mann mit dem Gesicht eines schlauen Bauern und einer maskulinen, fast groben Aura wurde 1930 als Sohn eines Beamten im Département Basses Pyrenées geboren. Die Welt seiner Jugend war kleinbürgerlich, ländlich und provinziell, genau das Gegenteil vom Kult der Brillanz, den Bourdieu Anfang der Fünfziger beim Studium an der École normale supérieure kennen lernte. Die Spannung zwischen seiner Herkunft und dem intellektuellen Milieu seiner späteren Wirkungsstätten ist vielleicht der wichtigste Schlüssel zum Denken Bourdieus. Bis zuletzt blieb dieser Gegensatz das beherrschende Thema seiner Forschung, die stets um die Frage kreiste, wie sich sichtbare in unsichtbare Macht verwandelt, wie es den Herrschenden gelingt, die Beherrschten über Fragen des Geschmacks oder des guten Tons zu unterwerfen, ohne äußere Gewalt anzuwenden.

Der Militärdienst und seine erste universitäre Stelle führten Bourdieu nach Algerien, wo die kabylische Gesellschaft sein erstes Studienobjekt wurde. Methodisch entdeckte er dabei den Strukturalismus, dem er auch nach seiner Rückkehr an die elitären Pariser Bildungsinstitutionen treu blieb. Die glänzende anthropologische Analyse des kabylischen Normensystems mit seinen klaren Zuordnungen von Mann und Frau, Draußen und Drinnen, Hell und Dunkel, Warm und Kalt, Oben und Unten in Bourdieus „Entwurf einer Theorie der Praxis“ (1972) gehört zum Elegantesten, was der Strukturalismus je hervorgebracht hat.

Doch während Bourdieu die Stufen der Pariser Bildungshierarchie in atemberaubender Geschwindigkeit erklomm, um seinen Aufstieg 1981 mit einem Lehrstuhl am Collège de France zu krönen, wandte er sich von der Sterilität der binären Oppositionen ab, in die die Strukturalisten die Welt bloß einteilten, ohne sie zu erklären. Bourdieu wollte nicht nur wissen, was die Dinge bedeuten, sondern auch, wo die Bedeutung herkommt. Letztlich ging es um die Frage der Macht, genauer: um die ewig ungelöste Frage nach Basis und Überbau.

Und die beantwortete Bourdieu 1979 in seinem Buch „Die feinen Unterschiede“, wo er ein ebenso grandioses wie abgründiges Panorama ununterbrochener und in alle kulturellen Bereiche hineinreichender gesellschaftlicher Prestigekämpfe entwarf. Er zeigte, wie scheinbar Unpolitisches – der persönliche Geschmack eines Individuums bis zu den kleinsten Details der Wohnzimmereinrichtung – Ausdruck seiner spezifischen Klassenlage war, mehr noch: Waffe in einem immerwährenden Konflikt um gesellschaftliche Macht. Je fester die Menschen davon überzeugt waren, eine Sache nur um ihrer Selbst willen zu tun, desto effektiver zementierten sie damit ihre soziale Überlegenheit. So wurde Bachs Kunst der Fuge zum wirkungsvolleren bürgerlichen Machtinstrument als Wasserwerfer und Tränengas.

Zugleich hebelte Bourdieu die alten Dualismen von Geist und Materie, Basis und Überbau, Individuum und Gesellschaft aus, mit denen so unterschiedliche Denker wie Hegel und Marx, Gramsci und Althusser gerungen hatten, indem er zwei Konzepte in die Debatte warf: den Habitus und einen neuen Begriff von Kapital. Den Habitus definierte er mit dem Wortungetüm „strukturierte strukturiende Struktur“, sprich: die Eigenschaft des einzelnen Menschen, seine soziale Umwelt in Interaktion mit ihr ständig in sich aufzunehmen und dabei doch zu verändern. Der Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft fiel in sich zusammen.

Wirklich revolutionär allerdings war Bourdieus Idee vom symbolischen Kapital, von Dingen, die den Menschen Prestige bringen. Er stellte Marx auf den Kopf, reduzierte die Bedeutung der ökonomischen Basis als Quelle der gesellschaftlichen Macht und ökonomisierte statt dessen Geist und Kultur, Ethik und Ästhetik. Er analysierte sie als Felder, in denen sich Machtpositionen, Kraftverschiebungen und Konflikte genau beschreiben ließen. So konnte man unterschiedlichste kulturelle Produkte – etwa Kandinsky und Kartoffelsalat – miteinander in Beziehung setzten. Die Idee ist alles andere als plump: So entdeckte Bourdieu etwa den Avantgardemechanismus, dessen zugrundliegende symbolische Öknomie besagt, dass im elitärsten Bereich der Kunst die Bewertungsmechanismen genau umgekehrt funktionieren wie im Bereich der Wirtschaft. Cézanne wurde zum großen Wegbereiter der Moderne nicht obwohl Jahrzehnte lang niemand seine Bilder kaufte, sondern gerade deshalb. Symbolisches Kapital verhält sich nicht selten spiegelbildlich zum ökonomischen.

Besonders die staatlichen Bildungseinrichtungen bis hinunter zu Grundschule und Kindergarten hielt Bourdieu für Bollwerke der herrschenden Klassen. Hier wurden Schülern aus einfachen Verhältnissen die Werte der bürgerlichen Kultur vermittelt, die Kultur selbst aber nicht. So lernte man, dass klassische Musik wertvoll war, nicht aber, sich damit wirklich auszukennen. Kleinbürger und Arbeiter wurden dazu erzogen, die bürgerliche Welt zu bestaunen und sich zugleich unterlegen zu fühlen – denn die Kompetenz im Umgang mit dem bürgerlichen Kanon vermittelte nur das Elternhaus. Selbst seine poststrukturalistischen Kollegen schonte er nicht mit seiner Kritik. Bei all ihrem revolutionären Gestus verwandelten sie die Philosophie in Literatur und machten sie zum elitären Genuss ästhetischer Adepten, zu einem Instrument bürgerlicher Vormacht, das nur vorgab, die herrschende Klasse zu kritisieren.

Hatte Bourdieu ursprünglich gehofft, seine kritischen Analysen etwa des Bildungssystems könnten zu einem Wandel beitragen, erkannte er spätestens in den Neunzigern, wie unverrückbar die gegnerischen Bastionen waren. Bourdieu zog daraus die Konsequenz und wandelte sich zum aktiven politischen Kämpfer. Er, der Marx hatte ersetzen wollen, wandte sich den Problemen der ökonomischen Basis zu und wurde zum radikalen Kapitalismuskritiker. In der fortschreitenden Globalisierung sah er den Siegeszug des klassischen Kapitals und bemühte sich, eine Front „neuer sozialer Bewegungen“ aus der Taufe zu heben, zuletzt vor allem im Kampf gegen den Euro. Vielleicht war dieses Engagement aber auch eine Reaktion darauf, dass die Zeit selbst an seinem Werk zu nagen begann. Feministinnen fragten zu recht nach der fehlenden Geschlechterproblematik in seinem Werk, und Bourdieu hatte keine Antwort.

Vielleicht bäumte sich in seinen späten politischen Aktivitäten aber auch noch einmal der Außenseiter Bourdieu gegen den längst arrivierten Bourdieu auf. So sehr er den Graben zwischen sich und dem poststrukturalistischen Establishment betont hatte, so sehr war er auf der sozialen und institutionellen Ebene längst ein Teil des philosophischen juste milieu geworden. Als Michel Foucault 1984 beerdigt wurde, gehörte Bourdieu zu seinen Sargträgern. Dieses Bild drückt allzu gut aus, welches ambivalente Verhältnis der Soziologe und Philosoph zur intellektuellen Szene Frankreichs hatte. Wir dürfen um Bourdieu trauern und zugleich gespannt sein, wie er zu Grabe getragen werden wird.