Das obszöne Werk

Zehn Jahre nach seinem Tod scheint die Kanonisierung Serge Gainsbourgs zum französischen Klassiker-Poeten abgeschlossen. Wiederveröffentlichungen seines Ouevres machen die Reimexerzitien des Chanson-Erneuerers auch hierzulande zugänglich

von REINHARD KRAUSE

Als sich im vergangenen März der Todestag von Serge Gainsbourg zum zehnten Mal jährte, zelebrierte der französische TV-Sender France 2 das Datum mit dem gebotenen Aufwand an Stars. Les Rita Mitsouko, Françoise Hardy und Faudel, der „petit prince du raï“, kurz: tutti quanti des französischen Pop-Business gab sich und dem Erneuerer des Chansons die Ehre. Nur Bambou, die letzte in der Reihe von Serge Gainsbourgs Musen und mithin seine rechtmäßige Witwe, blieb außen vor, wieder einmal – dabei hatte sie aus dem nämlichen Anlass gemeinsam mit ihrem und Gainsbourgs Sohn Lucien Jr., genannt Lulu, ein altes Werk des Meisters neu aufgenommen, „Ne dis rien“ – „Sag jetzt nichts“. Das schienen sich bei ihr dann aber auch die Veranstalter der Gedenkshow gedacht zu haben.

Umso mehr Platz bekam Jane Birkin in der Rolle, die sie noch immer bis zur Perfektion beherrscht, eingeräumt: als große (Ex-)Liebe und wahre Witwe. Natürlich weiß auch Birkin, dass man ihr mit 55 die jugendliche Nymphe nicht mehr abnimmt. Doch immer noch blieb ihr, die fahrige Nervöse in Bluejeans zu geben, mit tapfer unterdrückten Tränen, immer wieder umsortiertem Haar und mit myopischem Starren Richtung Moderator, als habe sie gerade ihre Kontaktlinsen verloren. Was einem deutschen Publikum als Zeichen gefährlicher Labilität erschienen wäre, hat man in Frankreich längst als adäquate Impersonierung von Serge Gainsbourgs „face B“ zu deuten gelernt: die Birkin als hypersensible B-Seite des sich gern als Grobian und Maulhelden gebenden Chansonpapstes. Das Studiopublikum jedenfalls war angemessen ergriffen und bezaubert von den Birkin’schen Erinnerungen an den toten Ex. Und natürlich von ihren gesanglichen Kostproben, denn mit Fug und Recht – und ihrer immer gefährlich quietschenden Stimme zum Trotz – gilt Jane Birkin bis heute als beste Gainsbourg-Interpretin.

Spätestens seit seinem Tod im Jahre 1991 ist das Phänomen Gainsbourg in Frankreich zu einer Art nationalem Kulturgut geworden – auch wenn er zu Lebzeiten, wie Birkin in der Gedenksendung mit fast schon stolzer Stimme erklärte, kaum eine goldene Schallplatte erhielt. Wo Gainsbourg draufsteht, weiß man inzwischen, ist Klasse drin. Und so wurde zum Sterbejubiläum allerhand an Tonträgern auf den ohnehin gut bestellten französischen Markt geworfen. Erstmals sind dort nun alle sechzehn Gainsbourg-Alben mit Original-Cover-Art auch auf CD zu kaufen. Wofür man freilich eine preiswertere und viel umfassendere CD-Box mit dem Gesamtwerk aus dem Verkehr zog. Und kurz vor dem Weihnachtsgeschäft dann wurde, für besonders hartnäckige Fans – und Frankreich ist voll von ihnen –, auch noch die letzte Lücke geschlossen: Auf der 3-CD-Box „Le cinéma de Gainsbourg“ finden sich fast sämtliche Filmsongs, die der umtriebige Serge zwischen 1959 und 1990 geschrieben hat – inklusive echter Überraschungen, etwa einer Fassung des Juliette-Gréco-Klassikers „Strip-tease“ in einer Aufnahme aus dem Jahr 1963, gesungen von der späteren Velvet-Underground-Ikone Nico.

Im Zeichen der fortschreitenden Kanonisierung zum Klassiker-Poeten erschien darüber hinaus eine Doppel-CD, auf der einige seiner Chansontexte nicht gesungen, sondern bar jeder Musik rezitiert werden, und bei dieser Edition durften nun auch endlich Bambou und Lulu mitwirken. Gainsbourg als der Baudelaire des 20. Jahrhunderts. Die Kritik rümpfte trotzdem die Nase: Gainsbourg ohne Musik, das ist wie trocken Baguette. Außerhalb des französischen Sprachraums dagegen stand es um Gainsbourgs Popularität bislang eher mau. Gainsbourg – das war doch der mit dem Stöhnsong „Je t’aime – moi non plus“? Der in einer TV-Talkshow vor laufender Kamera einen Fünfhundert-Franc-Schein verbrannte, um sich an ihm eine Zigarette anzuzünden? Und der ein anderes Mal an gleicher Stelle Whitney Houston vertraulich am Ärmel zupfte und ihr zuraunte: „I wont to föck you“? Genau der. Aber sein Werk? Allenfalls in der nach skurrilen Oldies süchtigen Lounge-Szene erlebten Gainsbourgs poppige Sixties-Aufnahmen eine gewisse Konjunktur. Der Rest blieb hierzulande bislang weitgehend unbekannt.

Das könnte sich nun endlich ändern. Zumindest wenn es nach dem Plattenmulti Universal geht, der sich entschlossen hat, Gainsbourgs Alben in den deutschen Vetrieb zu übernehmen. Von den jazzinspirierten Frühwerken der späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre und dem Weltpop-Meisterwerk „Percussions Gainsbourg“ (1964) über die beatgeprägte „Comic Strip“-Ära, die experimentellen Konzeptalben „L’histoire de Melodie Nelson“ (1971) und „L’homme à tête de chou“ (1976), die ziemlich grässliche Nazi-Rock-Platte „Rock around the bunker“ (1975) bis hin zu seinen beiden Reggae-Alben und dem harten Dancefloor-Sound seiner späten Tage liegt nun alles in digitaler Ausfertigung vor.

Ist Deutschland nun also reif für die Meisterwerke des genialen Franzosen? So ganz schien die Plattenfirma davon nicht überzeugt gewesen zu sein. Gainsbourg, so hat man sich offensichtlich gesagt, muss man verstehen können, um ihn zu lieben. Was liegt da näher, als die ausgesprochen anspielungsreichen Texte ins Deutsche zu übertragen und den CDs beizulegen? Keine schlechte Idee, aber ein fast schon vermessenes Unterfangen. Die vollmundig angekündigte „literarische Sensation“ jedenfalls blieb aus.

Das liegt auch an den Übersetzungen. Ganz richtig wird im Begleittext hervorgehoben, dass es zum kompletten Verständnis nicht ausreicht zu wissen, „was da erzählt wird. Deshalb muss man einfach das ein oder andere Wort-, Reim- oder Rhythmusspiel übertragen.“ Ein Fehler war es allerdings, die goldenste aller goldenen Übersetzerregeln zu ignorieren, nämlich zuallererst einen gut lesbaren deutschen Text zu produzieren. Verse wie „Elisa, suche Läuse ab / Mir grab die Nägel gut ein / Und deine Finger fein / In den Dschungel / meiner Haare“ machen nicht eben Lust auf nähere Bekanntschaft mit dem Gainsbourg’schen Oeuvre. Zuweilen hätte der Hinweis genügt, dass Gainsbourg viele seiner Chansons als Reimexerzitien anlegte: Je unwahrscheinlicher ein Reim, desto größer die Herausforderung. Und desto größer der Triumph, wenn – wie bei „L’anamour“ – kuriose Endungen wie asi-asa-pali-pala auch noch Sinn ergeben: „Weißt du, die lebhaft bunten Fotos, die ich in Asien mit 200 ASA aufnahm, sind nun, wo du nicht mehr da bist, verblasst.“ Im Begleitblatt zur CD „Jane & Serge“ (1969) wird daraus: „Photos aus Asien, du weißt/ 200 ASA hab’n gereicht / Jetzt wo du mich verlassen hast / Die kräft’gen Farben sind verbleicht.“

Besser wird es, wenn sich die Übersetzung von der Vorlage emanzipiert. Für den Skandaltitel „Je t’aime – moi non plus“, korrekt übersetzt mit „Ich liebe dich“ und der irritierenden Replik „Ich dich auch nicht“, wird hier vorgeschlagen: „Ich liebe dich – du mich auch“. Das trifft den widerspruchsvollen Ton des Originals (mitten im brünftigsten Gestöhne sagt Gainsbourg zu Birkin: „Die körperliche Liebe ist ohne Ausweg“) und wer will, kann auch noch einen sexuellen Unterton herauslesen.

Überhaupt: Auch Gainsbourg, das Ferkel, gilt es nun hierzulande zu entdecken. Es gibt kaum eine Erscheinungsform der Sexualität, der Gainsbourg nicht ein mehr oder gerne auch weniger verschlüsseltes Lied gewidmet hätte: „La décadanse“ über A-tergo-Erotik, „69 année érotique“ über wechselseitige Fellatio, „Variations sur Marilou“ über weibliche Masturbation, „Lemon incest“ über eine grenzwertige Vater-Tochter-Beziehung, „Love on the beat“ über eine schlagende Verbindung, und und und. Wer nur und ausschließlich den schlüpfrigen Gainsbourg entdecken will, muss allerdings doch noch einmal den Importservice freundlicher Plattenläden bemühen und in Frankreich die CD „Classé X“ bestellen.

Besonders eklatant lässt sich diese Gainsbourg-Facette am Stück „Les Sucettes“ festmachen, 1965 ursprünglich für France Gall geschrieben. Der Inhalt war, in deutsche Prosa übersetzt, folgender: „Annie ist scharf auf Dauerlutscher, Anisdauerlutscher. Annies Anisdauerlutscher geben ihren Küssen einen Anisgeschmack. Für ein paar Pennys holt sie sich ihre Anisdauerlutscher. Wenn ihr das Anisaroma der Lutschstange die Kehle hinunterrinnt, ist Annie selig.“ Die achtzehnjährige France Gall nahm das Chanson damals als weiteren harmlos-naiven Song ihrer jungen Karriere, ohne sich der möglichen Zweideutigkeit bewusst zu sein. Dass Anis in Frankreich vor allem im Pastis enthalten ist, einer weißlichen Flüssigkeit, und dass die kindliche Annie ausgerechnet mit Pennys bezahlt, die phonetisch sehr nah am Wort Penis liegen, das fiel den meisten Hörern in jener noch eher zugeknöpften Zeit allerdings auch erst auf, als Gainsbourg seine eigene Version herausbrachte und an der Stelle mit der Kehle ein vernehmliches Schluckgeräusch machte.

In einem ihrer sehr seltenen Interviews sagte France Gall kürzlich: „Ich wusste natürlich, dass es bei Gainsbourg oft Doppeldeutigkeiten gab, vor denen man auf der Hut sein musste. Und ich sah auch so ein komisches Grinsen um mich herum – vor allem bei meinem Manager. Aber ich hätte mir nicht vorstellen können, dass man auf die Idee kommt, mir so etwas unterzujubeln.“

Prompt wurde die Grand-Prix-Siegerin fortan von ihrem Management in der Rolle als naives Sexpüppchen präsentiert. In einer Fernsehshow, in der Gall ihr Kinderliedchen „J’ai retrouvé mon chien“ trällern sollte – ein Mädchen fleht zum heiligen Antonius, er möge ihr das entlaufene Hündchen zurückbringen –, ließ man sie mit zwei Hundeleinen auftreten, an denen je ein Herr in seinen reifsten Jahren auf allen vieren krabbelte. Nur ungern denkt die französische Sixties-Ikone deswegen heute zurück an die Zeiten ihrer größten Erfolge. Und trotzdem: „Für mich“, sagt sie, „werden Serges Lieder immer weit über der Norm bleiben, und ich habe ihm auch nie eins ausgeschlagen.“ Gainsbourgs Gemeinheiten sind heute, wo er tot ist, verziehen. Aus dem Olymp drohen schließlich keine Skandale mehr.

„Le cinéma de Serge Gainsbourg“, 3 CD-Box (Emarcy); „Serge Gainsbourg Portraits“, 2-CD-Box mit gelesenen Texten (Frémeaux & Associés); „Gainsbourg classé X“ (Mercury France). Sämtliche Originalalben von Gainsbourg erscheinen in Deutschland bei Universal Jazz