Arno Schmidt lebt!

Heute würde der Großdichter seinen 88. Geburtstag feiern – was heißt hier „würde?

Am 3. Juni 1979 starb in einem Celler Krankhaus der deutsche Schriftsteller Arno Schmidt an den Folgen eines Hirnschlags. Beerdigt wurde Schmidt unter einem Findling im Garten seines Hauses in dem Heidedörfchen Bargfeld. So weit die offizielle Biografie eines der wichtigsten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts – die seit dem 14. Januar 2002 umgeschrieben werden muss! Am Montag dieser Woche nämlich erschien unter dem Titel „Mit 88 Jahren noch fest im Tritt“ ein Artikel in der Ulmer Tageszeitung Südwest Presse. Dort berichtet ein Journalist unter dem Kürzel „gal“ von einem Wandertag in Wiblingen: „Neblig war es bei den 23. Internationalen Wandertagen der Wanderfreunde ‚Gold’ner Schuh’ Wiblingen. Doch das hielt rund 2.000 Wanderer am Wochenende nicht davon ab, die beiden Strecken (sechs oder elf Kilometer) durch Wald und Flur in Angriff zu nehmen. ‚Hauptsache, es kommt nicht nass von oben’, sagte einer der Wanderer. Man müsse beim Gehen halt auf Eisflächen in der festgetretenen Schneedecke achten. Neben Einzelgängern, Paaren und Familien nahmen auch 62 Gruppen teil. Die größte Gruppe stellte das Gasthaus Hirsch in Wiblingen mit 98 Teilnehmern, gefolgt von Ochsenhausen mit 65 und den Illertaler Wanderfreunden aus Vöhringen mit 60 Leuten. Ältester Teilnehmer war der 88-jährige Arno Schmidt aus Erbach …“

Arno Schmidt lebt! Der Schock saß tief in der Arno-Schmidt-Fangemeinde. Zumal eine Überprüfung ergab, dass die Vorgänge in Wiblingen den Tatsachen entsprechen. Mehr noch: Der Name und vor allem das Alter des „ältesten Teilnehmers“ sind exakt angegeben. Arno Schmidt wurde am 18. Januar 1914, also heute vor 88 Jahren in Hamburg geboren. Sofort explodierten die Gerüchte und Theorien in der Schmidt-Gemeinde, aus denen sich eine Hauptthese herausschälte:

Schmidt habe 1979 befürchtet, er könne trotz seines opus magnum „Zettels Traum“ in Vergessenheit geraten. Ein Künstler jedoch werde erst nach seinem Ableben unsterblich, meinte Schmidt und entschied sich für den Dienst am Werk und den frühen „Tod“ mit 65 Jahren, um seinen Nachruhm noch persönlich beobachten zu können. Sein Mäzen Jan Philipp Reemtsma habe ihn mit den notwendigen finanziellen Mitteln für eine falsche Identität ausgestattet. Das besondere daran sei, dass Schmidt, der in Namensdingen immer sehr empfindlich war, keine neue Identität angenommen, sondern die alte behalten habe. Ein doppelte Schraube, die dem Meister der Selbstinszenierung besonders gefallen habe.

Das vorgetäuschte Ableben habe es zudem den inzwischen äußerst aufdringlichen Jüngern – wie etwa Hans Wollschläger, der vor Schmidts Haus in Bargfeld sogar ein Zelt aufschlug – erschwert, dem im württembergischen Erbach untergetauchten Schmidt zu folgen.

Hinzu komme, dass Schmidt kurz vor seinem „Tod“ gewarnt worden sei, dass er das Leben eines Schwerarbeiters an der Literatur nicht mehr lange ohne verheeerende körperliche Schädigungen würde führen können: Nachtarbeit, Kaffee, Alkohol, Medikamente, die 100-Stunden-Woche, all diese Komponenten eines entbehrungsreichen Lebens hätten Schmidt so zugesetzt, dass er sich schlagartig zurückzog. Eine Entscheidung, die wir respektieren wollen, ohne weiter in der Vergangenheit zu graben. Stattdessen wünschen wir Arno Schmidt heute einen traumhaften 88. Geburtstag, viele schöne Wanderungen und noch ein langes Leben. MICHAEL RINGEL