Zu verzweifelt, um den Müll runter zu tragen

Dass Künstler Genies und somit dem Wahnsinn nahe seien – dieser Mythos ist nicht aus der Welt zu schaffen. Das zeigt sich am Beispiel des Schriftstellers und Psychiatriepatienten Robert Walser. Wem aber nützt das langlebige Klischee, dass Bücherschreiben etwas mit Krankheit und Gottesgabe zu tun hat?

von RENÉ MARTENS

„Was kann man sein, wenn man nicht gesund ist?“ Das schrieb Robert Walser vor hundert Jahren an Christian Morgenstern, um im PS anzufügen: „Das ist übrigens noch eine Frage.“ Später machte er sich über „krankhafte Gesundheitslustigkeit“ lustig.

Ausgerechnet Walser ist bis heute ein Opfer der kranken Krankheitsideologie, die er so oft auf die Schippe genommen hat. 27 Jahre lang war er in psychiatrischen Anstalten untergebracht. 1929 hatte er unter Schlaflosigkeit gelitten und aufgrund einer Schreibblockade auch unter Angstzuständen. Sein Verhängnis war besiegelt, als er sich von den Ärzten dazu drängen ließ, der Einweisung zuzustimmen; diese wiederum waren aufgehetzt worden von Walsers feiner Sippe, die den vermeintlichen Tunichtgut und Kneipenrumtreiber, heute würde man sagen: Bohemien, ruhig stellen wollte. „Gibt endlich zu, Stimmen zu hören“, schrieb der einweisende Arzt, und man spürt förmlich die Erleichterung des Schriftführenden. Die zuständigen Mediziner interpretierten Walsers „Geständnis“ als ein Beweis für seine „Schizophrenie“ – eine Diagnose, die übrigens manche heute tätigen Psychiater nicht anzuzweifeln bereit sind, wie ein Beitrag Bruno Kägis im Katalog zur Ausstellung „Robert Walser. Herisauer Jahre 1933–1956“ zeigt. Kägi leitet die Klinik Herisau, in der Walser einst interniert war, gehört aber dennoch der Robert-Walser-Gesellschaft an. Der Anstaltschef ist heute voller Vorfreude auf die nahe Zukunft, in der man nicht mehr überlegen muss, was es bedeutet, wenn jemand „Stimmen hört“. Schließlich gebe es für Schizophrenie „mehr als acht Risikogene“. Deren „exakte Funktion“ werde zwar „noch nicht verstanden“, aber die Betonung liegt auf „noch nicht“.

Wer so etwas hört, kann gut verstehen, dass sich Robert Walser brüsk gewehrt hat, wenn ihm die Vorgänger Kägis zu nahe traten. Und obwohl Walser Psychiater für anmaßende „Psychophagen“ oder „Psychopompe“ hielt – so formulierte es Friedrich Glauser –, ist es legitim, darüber zu spekulieren, ob er das Dasein drinnen nicht in gewisser Hinsicht für das kleinere Übel hielt: 1933 bestand kurzzeitig die Chance, dass Walser entlassen wird, doch letztlich wurde er aus der Klinik in Waldau nach Herisau verbracht – nachdem der Schriftsteller sich anfänglich gewehrt hatte, arrangierte er sich mit der neuen Situation; er könnte es, ganz undenunziatorisch gesagt, aus Bequemlichkeit getan haben. Oder, nüchterner formuliert: aus ökonomischen Gründen. Wie sich der für Walser überlebenswichtige „Zeitschriften- und Zeitungsmarkt in Deutschland entwickeln würde, war im Sommer 1933 nicht absehbar“, sagt der Walser-Herausgeber Bernhard Echte.

All diese Fakten und Indizien hindern viele Menschen nicht daran, Walser als Beleg dafür anzubringen, dass Genie und Wahnsinn eng beieinander liegen oder gar einander bedingen – und das, obwohl kürzlich die Kuratoren zweier Walser-Ausstellungen, „Aus dem Bleistiftgebiet“ in der Zentralbibliothek Zürich und die bereits erwähnte in Herisau, noch einmal allerhand Material gegen die althergebrachte Position, nennen wir sie G&W-These, zusammengetragen hatten. Neulich musste die Forschung dann sogar einen, pardon, Rückfall beklagen. Bei einer Podiumsdiskussion der Robert-Walser-Gesellschaft in Herisau gaben sich ausgerechnet zwei vermeintliche Bewunderer Walsers und Kollegen als Anhänger der G&W-Fraktion zu erkennen: die Berliner Bachmannpreisträgerin Sybille Lewitscharoff sowie der Schweizer Literat und Publizist Urs Widmer.

Schreiben sei ja sowieso zu „50 Prozent Krankheit und zu 50 Prozent Gottesgabe“, feixte Widmer und urteilte außerdem, kein Werk der Literaturgeschichte sei so wenig für den Leser geschrieben wie das Romanfragment „Der Räuber“. Ja, wenn das nicht krank ist! Hat nicht für den Markt geschrieben, sondern für sich, dieser Irre! Aber mal ganz abgesehen davon: Walser spielt hier offensiver mit dem Leser als in seinen früheren Romanen.

Sogar einer der anwesenden Psychiater empfand es als grotesk, dass Widmer und auch seine Berliner Kollegin glaubten, aus einem literarischen Werk auf eine vermeintliche Krankheit des Verfassers schließen zu können. Was die beiden so ultranormalen Schriftsteller erzählten, erinnert an eine Erfahrung, die einst E. M. Cioran, der womöglich depressivste Schreiber der Literaturgeschichte, gemacht hat. Als er 1934 sein erstes Buch, „Auf den Gipfeln der Verzweiflung“, veröffentlichte, schockierte der damals 23-Jährige damit zunächst seine Mutter. Ein von ihr herbeizitierter Arzt überflog das Werk und kam zu dem Schluss, der Autor leide an Syphilis.

Wem nützt das langlebige Klischee vom irgendwie kranken Kulturschaffenden eigentlich? Allemal Künstlern, die jede soziale Dysfunktionalität damit rechtfertigen können, sie als Kreative seien nun mal ein bisschen verrückt, also auch genial. Dass so noch der hinterletzte Wirrkopf redet, der nicht in der Lage ist, regelmäßig seinen Müll runterzubringen, erlebt man immer mal wieder. Feuilletonisten schließlich erleichtert der G&W-Mythos die Arbeit: Sie können Wesentliches bei Seite lassen – in Walsers Fall, dass er ein präpostmoderner Autor war, der Erzählweisen antizipierte, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts plötzlich als neu galten. Nicht zuletzt klingt die G&W-These natürlich viel romantischer als die Binsenweisheit, dass Schreiben weder mit Krankheit noch mit Gottesgabe zu tun hat, sondern zu einem nicht unbeträchtlichen Teil mit so unromantischen Faktoren wie Handwerk und Hartnäckigkeit – und diverse Sekundärtugenden sind ja auch noch im Spiel. Für den viel lesenden Bildungsbürger, der seinen Lebensunterhalt leider mit ernüchternd normaler Fronarbeit verdienen muss, erfüllen die vermeintlich wahnsinnigen Genies eine ähnliche Funktion wie für latent magersüchtige Sekretärinnen die Models aus den Frauenzeitschriften. Sie stehen für eine schöne kranke Traumwelt.