Kunst: Kein Name und kein Geschlecht

Beim Ausstellungsprojekt „Anonyme Zeichner“ im Kunstverein Tiergarten spricht jedes Blatt für sich und mit seinen Nachbarn.

Wer hat's gezeichnet? Auswahl mit einigen anonymen Werken Bild: Screenshot anonyme-zeichner.de

Fast zwei Jahre lang hörte man vom erfolgreichen Kunstprojekt „Anonyme Zeichner“ nichts mehr. „Ich brauchte eine Pause“, sagt Initiatorin Anke Becker. 2006 startete sie zum ersten Mal ihren Aufruf an Profi- und HobbyzeichnerInnen, ihr zwei bis drei Bilder zu schicken, die sie streng anonym ausstellen und zum ebenso streng einheitlichen Preis von 150 Euro zum Kauf anbieten würde. Hinter der verspielten Idee ließ sich eine harsche Kritik am gegenwärtigen Kunstmarkt kaum überlesen: Beim Erwerb von Kunst werde wenig auf das Werk an sich, aber viel auf große Namen und möglichen Marktwert geachtet. Hinzu kommt die Irritation, die beim Betrachter ausgelöst wird, wenn alles, was das ästhetische Urteil beeinflusst – also Name, Geschlecht, soziale oder geografische Herkunft –, verschwindet. Schnell hatte Becker Zeichnungen von 150 Künstlern beisammen. Kaum drei Jahre später, bei der zehnten Edition, waren es bereits 2.500 Einsendungen. „Organisatorisch war das ein Riesenaufwand“, erzählt die Berliner Künstlerin. „Ich brauchte eine Pause, um mich mal wieder meiner eigenen Arbeit zu widmen.“

Ende 2012, nach einer erfolgreichen Crowdfunding-Kampagne, war es wieder so weit: Die Anonyme-Zeichner-Internetseite startete den elften Aufruf. Und wieder klingelte bei Beckers Atelier unentwegt der Briefträger mit einem Sack voll Zusendungen aus Deutschland, Europa und Übersee. Eine Auswahl der 800 besten Arbeiten präsentiert die neue Ausgabe der anonymen Ausstellung.

„Wir haben unsere Lieblingszeichnung gefunden!“, kreischt ein junges Pärchen einer Freundin zu. Die wiederum verspricht, sich das Kunstwerk gleich anzuschauen – aber erst, nachdem sie herausgefunden hat, wo ihre eigene Arbeit hängt. „Ich mache zum zweiten Mal mit“, freut sie sich. Dass der Lebenslauf der Ausgestellten hier keine Rolle spielt, empfindet die auch im wahren Leben als Künstlerin arbeitende Frau als Befreiung. Dass nicht alle eingereichten Werke gezeigt werden, hält sie aber auch für sinnvoll: „Wenn totale Demokratie herrschen würde, dann würde die Qualität leiden“, meint sie.

Über die Auswahlkriterien rätselt indes ein junger Mann mit schwarzer Brille. Er kenne sich zwar nicht gut mit Kunst aus, gibt er zu. Aber einige Zeichnungen wirkten auf ihn, als wären sie beim Telefonieren nebenbei gekritzelt worden. „Hier läuft man schon Gefahr, richtig gute Sachen zu übersehen“, denkt er.

Selbst Anke Becker gefallen nicht alle Bilder, obwohl sie doch für die Ausstellung verantwortlich ist. Zumindest nicht auf Anhieb. Doch wenn eine Arbeit eine andere stilistisch gut ergänzt, wenn ein assoziatives Spiel beginnt, dann hängt die minderwertige Ware letztlich doch an der Wand. Beim Vorgang des Aufhängens versteht sich Becker nicht mehr als Kuratorin, sondern als Künstlerin, die eine Collage komponiert. So wird am Ende eine Stickerei von einer gekritzelten Abstraktion vervollkommnet; neben perspektivisch korrekten Bleistiftskizzen eines modernen Gebäudes prangt das zweidimensionale Abbild eines imaginären Hotels aus roten und schwarzen Filzstift-Würstchen; ein „Ei im Eierbecher“ sieht vielsagend aus, weil sich auf dem Blatt nebenan bunte Kreise vertikal übereinanderstapeln.

Am Abend der Eröffnung war es allerdings schlicht unmöglich, sich der künstlerischen Gesamtkomposition bewusst zu werden. In den drei großzügigen Ausstellungsräumen des Kunstvereins herrschte unerbittliches Gedrängel. Obwohl sich die große Vielfalt der Genre, Stile und Materialien kaum noch begreifen ließ, so erahnte man sie doch beim Betrachten der vielen Anwesenden, die zumeist auch Ausstellende sind.

Der acht Jahre alte Amon etwa ist mit zwei Bildern vertreten. Eines davon lässt ein wolkenartiges Monster erkennen. Seine Mutter, selbst Künstlerin, habe ihm vorgeschlagen, sich zusammen mit ihr zu bewerben. „Aber ihre Bilder wurden abgelehnt“, sagt er trocken, bevor er wieder in der Menge verschwindet.

Und auch die Kohlezeichnung von Jochen, eine düstere Landschaft, findet einen Käufer. 50 Euro gehen in die Projektkasse, 100 bekommt Jochen. Das sei weit unter seinem üblichen Honorar. Trotzdem werden die Einnahmen sofort wieder reinvestiert: Jochens Freund überredet ihn, sein Honorar für das Werk „Die Eisbärin“ zu nutzen. Warum gerade dieses Bild? „Es ist witzig“, sagt er. Weil er schon den ganzen Abend von der Zeichnung schwärmt, feuerte ihn seine Clique an: „Kauf es doch, kauf es doch!“ Wer die Ausstellung nicht besuchen kann, hat die Möglichkeit, die Werke über die Internetseite des Projektes zu bestaunen – und zu erwerben.

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