„Ich bin ein Patriot“

Ein Krieg gegen Terrorismus ist gerecht – ob der Westen diesen Krieg zurzeit gerecht führt, ist eine schwierigere Frage. Der US-Philosoph Michael Walzer über Gründe und Folgen des 11. September

Interview DANIEL HAUFLER

taz: Sie haben kürzlich in der Zeitschrift The American Prospect einen Beitrag zur ideologischen Apologetik des Terrors veröffentlicht. Das liest sich vor allem wie eine Kritik an der Linken, die ja mit gewalttätigen Befreiungsbewegungen wie der PLO teilweise zumindest sympathisiert. Was wollten Sie damit erreichen?

Michael Walzer: Wir müssen uns mit einer systematischen Kritik all der Entschuldigungen für den Terrorismus befassen, und das gilt in der Tat besonders für die Linke. Ich habe mit meinen Beitrag versucht, einen Anfang zu machen.

Welche Entschuldigungen meinen Sie?

Die Standardentschuldigungen sind: Terrorismus ist die Waffe der Schwachen, Terrorismus ist nur der letzte Ausweg von unterdrückten Völkern, die Opfer, wie jetzt die Amerikaner, sind nicht ganz unschuldig. Keine dieser Behauptungen kann Terrorismus entschuldigen, keine kann ihn moralisch verständlich machen. Mehr noch: Blickt man auf die Geschichte der IRA, der FLN in Algerien, der PLO, als sie noch eine säkulare Bewegung war, oder der ETA in Spanien, dann sieht man: Für all diese Gruppen war Terrorismus nicht der letzte Ausweg, sondern die erste Wahl. Sie haben keinen anderen politischen Weg gesucht. Also muss man die Absicht dieses Terrorismus klarstellen: Er gibt ganze Bevölkerungsgruppen zum Töten frei – alle Frauen, Männer und Kinder, die irische Protestanten sind oder französische Algerier, israelische Juden oder Spanier, die keine Basken sind. Das ist die Botschaft des Völkermordes oder so genannter ethnischer Säuberungen: Wir wollen, dass du verschwindest, so oder so. Das ist keine Botschaft, die mit irgendeiner anständigen Art von Politik vereinbar ist.

Der Terrorismus, so die verbreitete Ansicht, habe in vielen Ländern nur eine Chance, weil die Menschen sich als Modernisierungsverlierer fühlen, gedemütigt vom arroganten Westen. Müssten jetzt nicht die alten linken Konzepte gegen die ungerechte Verteilung auf der Welt als Prävention gegen den Terror taugen?

Natürlich haben wir gute Gründe, substanziell etwas gegen die Ungerechtigkeit in der Welt zu tun, und das nicht erst seit dem 11. September. Aber ich glaube nicht, dass wir den Leuten vormachen sollten, dass damit die terroristische Politik verschwände. Denn: Ich glaube nicht, dass die menschliche Armut oder die globale Ungerechtigkeit der tiefere Grund für den Terror ist. Man kann das schon mit einem sehr einfachen Experiment erkennen: Die globale Ungleichheit offenbart sich am dramatischsten in Afrika, und zwar in der Subsahara. Die Mitschuld des Westens an der Produktion und Reproduktion dieser Ungleichheit ist nirgends deutlicher als dort. Dennoch bieten weder Afrika noch die Afrikaner in Europa oder den USA den Nährboden für Terroristen. Eine spezifisch materialistische Erklärung funktioniert also nicht. Man braucht noch andere Gründe – in diesem Fall kulturelle, politische und religiöse Gründe. Und dazu muss man die Geschichte des Islam im 20. Jahrhundert betrachten.

Teilen Sie die Position des Literaturnobelpreisträgers V. S. Naipaul, der den Islam generell für fundamentalisch hält und gerade zu den Gründen des Anschlags vom 11. September sagte: „Es gibt keinen. Religiöser Hass, religiöse Motivation, das war das Entscheidende“?

Das ist natürlich die ultrarationalistische Sicht, dass religiöser Hass keinen Grund habe. Das bezweifle ich.

Welche Erklärungen haben Sie für den islamistischen Terror?

Nun, anders als bei Naipaul sollte eine Erklärung wenigstens etwas erklären. Sie muss Gründe benennen, warum so viele Gläubige sich in politische Totalitaristen und religiöse Terroristen verwandelten, warum sich ein Regime wie das der Taliban etablieren konnte. Es ist ja nicht so, dass der Islam in der Vergangenheit immer solche Machenschaften hervorgebracht hätte.

Was hat sich verändert, damit es zu dem heutigen Konflikt kommen konnte?

Bin Laden hat in seinem ersten Video nach den Anschlägen von 80 Jahren Unterwerfung gesprochen. Und vor 80 Jahren war gerade der Erste Weltkrieg vorbei, und die europäischen Protektorate und Mandate wurden in Syrien, Libanon, Irak, Palästina und Jordanien errichtet. Damals wollten die Franzosen einen christlichen Staat in Libanon aufbauen, und Engländer wie Franzosen wollten in jedem der Staaten westlich orientierte konstitutionelle Monarchien und Republiken schaffen. Diese Eingriffe setzten sich nach dem Zweiten Weltkrieg fort, als der Staat Israel gegründet wurde. Darauf folgte im Nahen Osten eine lange Reihe militärischer Niederlagen von 1948 bis zum Golfkrieg 1991, aber auch in Asien gegenüber den Hindus. Das ist die Geschichte, die so viele Ressentiments gegenüber dem Westen hervorgebracht hat, vor allem gegenüber den USA und Israel. Das hat nicht viel mit Armut zu tun, sondern mit der Wut über die Staatenbildung und die wirtschaftliche Entwicklung in der arabischen Welt, für die der Westen verantwortlich gemacht wird. Es ist eine merkwürdige Reaktion auf die Modernisierung und das Scheitern der arabischen Staaten beim Versuch, sich selbst zu modernisieren. Wir stehen heute vor einer schwierigen Auseinandersetzung, bei der wir die islamistischen Terroristen besiegen müssen, und zwar mit jedem Verbündeten in der arabischen Welt, den wir finden können. Wir müssen dort den moderaten Kräften helfen, wo immer sie auftauchen.

Sind Sie optimistisch, dass das gelingt?

Nein, das bin ich nicht. Ich bin verbittert und depressiv seit dem 11. September. Aber das Ziel muss sein, den moderaten Kräften in der arabischen Welt den Weg zu bereiten. Das muss einfach möglich sein.

Um den Terror zu bekämpfen, haben die USA und ihre Alliierten in Afghanistan vor allem mit militärischen Mitteln eingegriffen. Ist das in Ihren Kategorien ein gerechter Krieg?

Wenn wir annehmen, dass Bin Ladens Netzwerk in den Terror verstrickt ist und von den Taliban unterstützt wird, dann ist ein Krieg zur Prävention – nicht zur Vergeltung –, ein Krieg, der es unmöglich macht, Terroristen dort auszubilden und terroristische Anschläge zu verüben, ein gerechter Krieg. Ob wir ihn gerecht oder klug führen, das ist eine schwierigere Frage, die sich noch nicht beantworten lässt.

Auch innenpolitisch verändern sich die USA außerordentlich. Zum ersten Mal scheint die Mehrheit bereit zu sein, Freiheitsrechte aufzugeben, um sicherer leben zu können. Entdecken die Amerikaner seit dem 11. September den verantwortlichen Staat im Sinne eines Thomas Hobbes wieder?

So scheint es. Interessant ist: Seit der so genannten Reagan-Revolution haben wir in einem Land gelebt, in dem es eine Kampagne gegen den Zentralstaat gegeben hat. Eine Kampagne, die sich selbst prototypisch amerikanisch nannte und systematisch den Staat verunglimpfte. Die Regierung galt als eine schlechte Sache, deren Ressourcen ständig reduziert wurden. Nun brauchen wir plötzlich dringend die Regierung und das, was ein Staat seinen Bürgern unbedingt bieten muss: den Schutz des Lebens. Das ist die erste Aufgabe des Staates, und diese Verpflichtung wird jetzt wieder erkannt.

Ist die aktuelle Lage also eine Chance für einen intervenierenden Staat, also quasi ein Modell, das die Demokraten, zumindest vor Bill Clinton, stets in den USA vertreten haben?

Ja. Kürzlich sagte jemand zu mir: Krieg ist immer eine Chance für die Linke, weil es die Leute zwingt, mehr auf die Rolle des Staates zu achten. Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Krieg in Afghanistan sich als eine Chance für die Linke herausstellen wird, aber er zwingt die Amerikaner, über die Notwendigkeit eines starken Staates nachzudenken, ja diese Idee zu unterstützen. Meine Schwester, eine Historikerin, hat vor ein paar Jahren einen Artikel über die Pockenkrise in New York 1947 geschrieben. Damals hatte man Angst vor einer Epidemie und impfte in weniger als einem Monat sechs Millionen Menschen. Angesichts der Milzbrandfälle wurde sie jetzt von Journalisten belagert, um über ihre Erkenntnisse zu berichten. Sie sagt: Wir würden das heute gar nicht mehr schaffen, weil wir die öffentliche Gesundheitsversorgung jahrelang unterfinanziert haben. Es fehlt die Infrastruktur, die es noch 1947 gab. Das ist ein schlagendes Beispiel dafür, wie wichtig der Staat in solch einer Situation sein kann.

In der arabischen Welt machen sich die USA mit ihrer Politik bislang nicht beliebt. Der Hass auf Amerika, der hierzulande mit Schrecken wahrgenommen wird, könnte sich verstärken.

Es geht dabei nicht nur um Amerika. Machen Sie sich da nichts vor, ihr Europäer werdet auch gehasst. Wir sind nur gerade die größte Macht.

Die Hegemonialmacht.

Ja, aber es waren zuerst die Franzosen und die Engländer, die sich im Nahen Osten brachial eingemischt haben, lange vor den USA.

Sie scheinen ja mit Bushs Politik weitgehend einverstanden zu sein. Sind Sie auch ein amerikanischer Patriot?

Na ja, also ich glaube, das ist gar keine so schlechte Beschreibung. In gewisser Hinsicht war ich schon vor dem 11. September ein Patriot. Ich bin kein amerikanischer Nationalist, aber ich habe schon eine Hochachtung vor dem, was dieses Land darstellt – und Patriotismus ist keine schlechte Art, diese Hochachtung zu benennen.