Gefräßige Axolotl

Sätze, die vorüberziehen – und dabei undurchdringlich werden. Mario Bellatin erzählt von einem „Schönheitssalon“ voller todgeweihter Fische und Kranker

Niemand trägt einen Namen. Weder der Ich-Erzähler, noch seine Kollegen, noch der flüchtige Geliebte. Nicht die Kranken, die zu ihm kommen, um zu sterben. Nicht einmal die Stadt, in der diese Erzählung angesiedelt ist. „Der Schönheitssalon“, der bisher einzige ins Deutsche übertragene Text des 1960 geborenen, in Mexiko-Stadt lebenden Autors Mario Bellatin, verzichtet auf klare Koordinaten. Hätte die Übersetzerin nicht ein, zwei spanische Ausdrücke beibehalten, die Erzählung könnte in jeder größeren Stadt spielen.

Einen Namen bekommen nur die Fische, die der Ich-Erzähler hält. Keine Eigennamen zwar, aber immerhin Bezeichnungen, die etwas vom Schillern der Schuppen in klarem Wasser ahnen lassen. Skalare gibt es, Goldkarpfen, Piranhas, Zwergziersalmler, Trauermantelsalmler, gewöhnliche Guppys. Und schließlich zwei Axolotl. „Diese Fische sehen aus, als wären sie in der Evolution irgendwo stecken geblieben.“ Leibhaftige Atavismen, die „zusätzlich zu den Flossen kleine Stummelfüße“ haben und „rund um den Hals kiemenartige Auswüchse wie manche Tiere aus dem Zeitalter der Dinosaurier“. Julio Cortázar, der argentinische Schriftsteller, der der Wirklichkeit gerne eine zweite, fantastische Ebene einzog, hat diesem Wesen einmal eine Erzählung gewidmet. Bei Bellatin fressen die Axolotl (sie waren „zartrosa und hatten tiefrote Augen“) zunächst die Putzerfische, die die Wände des Aquariums reinhalten sollen. Dann zerfleischen sie sich gegenseitig.

Der Erzähler-Protagonist hat dem Schönheitssalon eine neue Funktion verliehen: Statt Frauenhaar zu toupieren, empfängt er ausschließlich männliche Gäste. Sie alle sind Todgeweihte, Träger einer Krankheit, deren Name nicht fallen muss. Es genügt zu sagen, dass sie Geschwüre haben und entzündete Lymphknoten, dass des Nachts ihre Liebhaber vor der Tür stehen, dass die „Nachbarn behaupteten, dieser Ort sei ein Ansteckungsherd, und die Pest habe sich hier in der Gegend festgesetzt“.

Warum der Protagonist die Kranken aufnimmt, bleibt offen. Doch eines ist von den ersten Seiten an klar: Lange wird er es nicht mehr tun, denn er selbst ist infiziert. Dementsprechend erzählt er im Modus der Rückschau, lässt Ereignisse und Gepflogenheiten Revue passieren, die unwiederbringlich in der Vergangenheit eingekapselt sind. Man erfährt, wie er regelmäßig ein türkisches Dampfbad besuchte, wie er nachts in Frauenkleidern durch die Straßen zog, wie er tags in Frauenkleidern Haare schnitt. Und wie er zu den Fischen kam, die den Schönheitssalon verschönern sollten. Viel geblieben ist nicht von der Pracht: Die Aquarien sind verschmutzt, die meisten Fische verendet. Mag der Erzähler auch an ihnen hängen, so weit, dass er ihnen kontinuierlich Futter und Pflege gönnte, reicht seine Zuneigung nicht. Mit den Kranken hält er es ähnlich. „Auch wenn Sie es mir vielleicht nicht glauben, aber ich kann meine Gäste kaum noch auseinander halten. Mittlerweile sind sie für mich alle gleich.“ Gleichgültigkeit könnte das sein, aber auch eine seltene Form von Menschlichkeit.

Bellatins Sätze ziehen vorüber. Auf den ersten Blick sind sie klar, auf den zweiten werden sie undurchdringlich. Der Autor setzt sie auf eine Spur, die wenige Zentimeter neben der realistischen Beschreibung verläuft. Zugleich versagt er ihnen die fantastische Note, die es bräuchte, wollte er eine irreale, eine Gegenwelt erschaffen. In diesem Schwebezustand wird die Erzählung fremd, wie Fische im Aquarium, die sich Stunde um Stunde anschauen lassen, ohne dass ihr Treiben in einem Begriff aufginge. Und das, obwohl der eine Begriff, Aids, so nahe liegt. Er kommt der Fremdheit nicht bei, hellt den opaken Text nicht auf. Denn auf dem Grund der Erzählung ruht etwas, was sich der Aufklärung widersetzt: Tod und Metamorphose. CRISTINA NORD

Mario Bellatin: „Der Schönheitssalon“. Aus dem Spanischen von Carina von Enzenberg. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2001, 79 S., 19,80 DM