Die heimliche deutsche Hymne

Am Volkstrauertag, dieses Jahr am 18. November, wird es wieder an vielen Gedenkstätten gespielt: Es klingt melancholisch, wird aber offiziell nur noch ohne Text intoniert. „Ich hatt einen Kameraden“ war immer mehr als ein nationales Lied für getötete Soldaten. Geschichten über ein Lied des schwäbischen Dichters Ludwig Uhland

von KURT OESTERLE

Der gute Kamerad

Ich hatt einen Kameraden, Einen bessern findst du nit. Die Trommel schlug zum Streite, Er ging an meiner Seite In gleichem Schritt und Tritt.

Eine Kugel kam geflogen, Gilt‘s mir oder gilt es dir? Ihn hat es weggerissen, Er liegt mir vor den Füßen, Als wär‘s ein Stück von mir.

Will mir die Hand noch reichen, Derweil ich eben lad. Kann dir die Hand nicht geben, Bleib du im ew‘gen Leben Mein guter Kamerad!

Seine Urheber sind fast vergessen, so wie die der meisten Volkslieder. Auch sein Titel ist eher unbekannt. Wer das Lied kennt, glaubt gern, es heiße: „Ich hatt einen Kameraden“, doch das ist nur sein erster Vers. Sein richtiger Name lautet: „Der gute Kamerad“, und es wurde im Jahr 1809 von Ludwig Uhland in Tübingen geschrieben. Friedrich Silcher, der romantische Liederkomponist, gab ihm 1825, ebenfalls in Tübingen, die Melodie. Das Lied entfaltete eine beispiellose Wirkung. Es wurde nationales Trauerlied, ertönte an Kriegsgräbern und an den Gräbern von Zivilisten.

Heute ist es nur noch am Volkstrauertag zu hören, im dunklen und trüben November, am Sonntag vor dem Buß- und Bettag, stets zum Gedenken an die Opfer beider Weltkriege sowie deutscher Gewaltherrschaft. Der Soziologe Norbert Elias entdeckte in dem Lied einen Widerhall kollektiver Todesfantasien. Bis in die Gegenwart hat es sich im kulturellen Bewusstsein der Deutschen gehalten. Als Frontgespenst geistert der „Gute Kamerad“ durch Heiner Müllers Werk, und selbst in Kassibern der „Rote Armee Fraktion“ (RAF) blitzen seine Worte auf.

Richard von Weizsäcker traute dem „Guten Kameraden“ nicht. In seiner Zeit als Bundespräsident ließ er einen Mitarbeiter beim Volksliedarchiv in Freiburg anfragen, woher Text und Musik stammten und welche „Aufführungstraditon“ das Lied habe. Erwünscht war eine „zuverlässige Rudimentärunterrichtung“, wie es in dem Brief vom September 1993 in schönstem Bundespräsidialdeutsch heißt.

Welche Sorgen den ersten Mann der Republik wegen des Lieds plagten, verraten Notizen eines Archivars unter dem Briefkopf: „Neue Wache in Berlin – Einigungsvertrag – Wehrmachtstradition“. Mit anderen Worten: Passte das Lied noch in die Gedenkkultur des wiedervereinigten Deutschland? Konnte es vorgetragen werden an dieser zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik, die bis bis zum Ende der DDR ein „Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus“ war?

So oder so, im Westen gehört es zum Zeremoniell des Volkstrauertags, ein Gedenktag, der nach dem Ende des Kaiserreichs eingeführt wurde. „Es wird gebeten, nach der Totenehrung stehen zu bleiben, bis das Lied verklungen ist“, lautet in der Regel die Bitte auf den Einladungskarten zur zentralen Gedenkfeier im Deutschen Bundestag. Bei Trauerfeiern der Bundeswehr intoniert ein Solobläser das Lied „nach Absenken des Sarges“.

Im Osten Deutschlands war die Uhland-Silcher-Tradition abgebrochen. Andere Töne begleiteten dort die Gedenkfeiern von Partei und Armee: Chopins Trauermarsch oder die Arbeiterlieder „Unsterbliche Opfer“ und „Der kleine Trompeter“. Geteiltes Land, geteilte Lieder. Nichts, was zusammenklingen könnte.

Die Antwort des Archivs an den Bundespräsidenten war tröstlich. Seit 1918, also auch in der Weimarer Demokratie, sei das Lied bei staatlichen Totenfeiern „aufgeführt“ worden. Selbst so erhabene Konkurrenz wie Beethovens „Eroica“, Wagners „Parsifal“-Vorspiel oder Chopins „Marche funèbre“ hätten es nicht verdrängt. „Im Alltagsleben des Durchschnittsmenschen gibt es einige musikalische Standardtypen“, schließt der Archivar, „dazu gehört ‚Stille Nacht‘, Mendelssohns Hochzeitsmarsch und das Lied vom ‚Guten Kameraden‘. Diese Standardtypen sind kaum durch etwas anderes zu ersetzen. Deshalb glaube ich nicht, dass es gelingen könnte, den ‚Guten Kameraden‘ zu entthronen.“

Er thront auch weiterhin. Aber fast jedes Jahr, wenn Deutschland sich im November seiner Opfer erinnert, entbrennt irgendwo im Land neuer Streit um das Lied.

Die Debatten verlaufen meist nach zwei Mustern: Zum einen ist es ein junger Bürgermeister, dem der „Gute Kamerad“ unheimlich wird. Er untersagt, ihn am Volkstrauertag zu spielen. Als Grund nennt er die dritte Strophe, obwohl das Lied auch in seiner Gemeinde immer nur instrumental zu hören war. Die Strophe sei „kriegsverherrlichend“ und habe in der Vergangenheit den Sinn gehabt, „zum Weiterkämpfen zu animieren“. Eine Leserbriefschlacht beginnt. Ehemalige Kriegsteilnehmer klagen über die Verletzung ihrer Gefühle. Einer von ihnen schert aus und erinnert daran, wie das Lied an den „Heldengedenktagen“ des Dritten Reichs eingesetzt wurde, „um das Volk auf Hitlers Angriffskrieg einzustimmen“.

Nach dem zweiten Muster empören sich Friedensaktivisten über das Lied. Wenn es bei der Trauerfeier erklingt, wenden sie sich demonstrativ ab und fangen zu plaudern an. Wieder sind Gefühle verletzt, wieder beginnt eine Leserbriefschlacht. Zum Gemeindefrieden trägt die Belehrung bei, das Lied sei längst international: So finde es sich in japanischen Liederbüchern, werde in der Fremdenlegion gesungen („J‘avais un camarade“), ja selbst in den Niederlanden habe der Soldatensong aus dem Fundus des ungeliebten Nachbarn einen Übersetzer gefunden („Ik had een wapenbroeder“), und für den Fall, dass die Nationen absterben sollten, sei in der Weltsprache Ido mit einer globalisierten Fassung vorgesorgt: „Me havis camarado / tu plu bonan trovas ne / tamburo nin vokadis / il apud me iradis / sampaze quale me.“

Am schwersten aber wiegt das Argument, dass Silchers Melodie von den Franzosen am 14. Juli, ihrem Nationalfeiertag, am Grabmal des Unbekannten Soldaten gespielt werde. Zur Versöhnung der Bürgerschaft taugt ebenso der Hinweis, dass der Bundespräsident an der zentralen Gedenkfeier in Berlin teilnehme, obwohl dort der „Gute Kamerad“ ertöne.

Es ist leicht zu verstehen, dass vorwiegend Belege von außen in einem an seinen Traditionen irre gewordenen Land Entlastung bringen – mehr als der klügste Gedanke von innen. Darum muss sich der schon 1985 gemachte Vorschlag des Germanisten Peter Horst Neumann, der in Uhlands Lied ein unschuldiges Opfer deutscher Verhältnisse sieht, wie eine Donquichotterie ausnehmen. Neumann plädiert auf Freispruch: „Da die Vereinnahmung auf der rechten Seite geschah, könnte die Ehrenrettung nur von links her erfolgen. Die militaristische Aura wäre zerstoben, hätte Marlene Dietrich auch den ‚Guten Kameraden‘ gesungen oder Ernst Busch zusammen mit dem Lied der Spanischen Brigaden oder Wolf Biermann zum Gedenken an Robert Havemann.“

Auf unabsehbare Zeit wird das Lied ohne Worte die Begleitmusik staatlichen Gedenkens bleiben. Ärger entzündet sich daran vermutlich auch künftig vor allem auf lokaler Ebene. An der Staatsspitze scheint es, spätestens seit Weizsäckers Anfrage beim Freiburger Volksliedarchiv, unumstritten. Unten müssen Widersprüche im deutschen Gedächtnis offenbar weniger krampfhaft aufgehoben werden als oben, wo die Angst vor übler Außenwirkung oder dem endgültigen Verlust einheitsstiftender Symbole die Harmonie erzwingt.

Das Lied soll ein Gemeinplatz der Erinnerung sein. Doch in Deutschland existieren zu viele, zu verschiedene Erinnerungen, als dass sie auf diesem Gemeinplatz zusammenfinden könnten. Ob das immer so war?

Ludwig Uhland schrieb sein Lied während der Befreiungskriege gegen die napoleonische Herrschaft. Österreich hatte sich 1809 erhoben gegen den Imperator, der nach der Niederlage in Waterloo 1815 auf die Atlantikinsel St. Helena deportiert werden sollte. Der junge Poet Uhland nahm am Leiden beider Seiten Anteil. Er fühlte mit den Badenern, die unter französischem Befehl gegen die Aufständischen ziehen mussten, und er trauerte um seinen Förderer Leo von Seckendorf, der als österreichischer Hauptmann gefallen war.

Uhland war aufgefordert worden, für ein Flugblatt „zum Besten der (badischen) Invaliden des Feldzugs“ ein Kriegslied zu verfassen. Sein Beitrag kam jedoch zu spät, und so nahm sein Freund Justinus Kerner den „Guten Kameraden“ zwei Jahre später in seinen „Poetischen Almanach für das Jahr 1812“ auf. Danach erschien er in allen eigenständigen Gedichtbänden Uhlands und 1848 im „Deutschen Volksgesangsbuch“ Hoffmanns von Fallersleben.

Doch in welcher Nachbarschaft das Lied auch stand, es blieb ein Solitär. Ihm fehlte der Völkerschlachtton, der national-heroische Doppelklang, der in den Kriegsliedern der Zeit dominierte: Arndts „Was ist des Deutschen Vaterland?“, Körners „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los“, Nonnes „Flamme empor“. Lieder (fast) dieser Art dichtete Uhland später auch selbst, und dabei mag er seinem Wunsch nach Parteinahme nachgegeben haben – anders als beim „Guten Kameraden“, bei dem er seinen Ehrgeiz darauf verwandte, den Volksliedton zu treffen, so wie die Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“, für die Tübinger Romantiker eine Bibel, diesen Ton traf.

Obgleich Uhlands Gedicht schon vertont war, nahm Friedrich Silcher, der Tübinger Universitätsmusikdirektor, sich seiner nochmals an. Volkstümlich wurde romantische Poesie, wenn sie sich singen ließ. Doch keiner im 19. Jahrhundert setzte in Deutschland Lyrik so populär in Singbares um wie Silcher. Ein Leben lang jedoch musste er gegen das Vorurteil angehen, dass er Uhlands Lied eine Melodie erfunden habe; gefunden hatte er ihm eine, und zwar in der Schweiz, wo ihm das Volkslied „Ein schwarzbraunes Mädchen hat ein‘ Feldjäger lieb“ zu Ohren gekommen war.

Wahrheitsgemäß teilte er auf dem Notenblatt des „Guten Kameraden“ mit: „Aus der Schweiz, in 4/4 Takt verändert, v. Silcher“. Trotzdem wurde er unverdrossen für den Schöpfer gehalten. Es kursierte sogar eine Sage, die glauben machen wollte, ein Herbststurm habe Silcher ein Blatt mit Uhlands Versen durch das Fenster seiner Tübinger Kammer zugeweht. Die Entstehung eines Lieds von derart mysteriösem Erfolg war ohne überirdische Hilfe offenbar nicht zu denken.

Man hat es in der Folge gedreht und gewendet, um ihm das Geheimnis seiner Wirkung zu entreißen. Im Jahre 1977 erschien eine Schrift des „Wiener Seminars für Melosophie“, die den „heilenden Kräften“ in Silchers Vertonung nachlauscht. Ihr Autor, Victor Lazarski, glaubt, dass das Lied sich durch eine ihm selbst innewohnende Kraft aus „militärischer Enge“ befreit und zum Abschiedslied der gesamten Menschheit gewandelt habe.

Für Lazarski hat die „Seele“ des Lieds ihren Sitz im zehnten Takt. Genau dort aber findet sich eine der wenigen Stellen, wo Silcher in die vorgefundene Melodie eingriff, indem er bei der unechten Wiederholung der jeweiligen Schlusszeile den harten Auftakt weicher gestaltete und so den Marsch ins Elegische kippen ließ.

Was Lazarski beim genialen Individuum fand, hatte zuvor Heyman Steinthal beim singenden Kollektiv ausgemacht. 1880 veröffentlichte dieser frühe Kunstsoziologe und Lehrer Georg Simmels in der Zeitschrift für Völkerpsychologie einen Aufsatz, in dem er sich mit den „Umsingungen“ von Uhlands Lied befasst. Er zitiert eine Variante, die er von einem Dienstmädchen singen hörte: „Die Kugel kam geflogen / Gilt sie mir? Gilt sie dir? / Ihn hat sie weggerissen, / Er lag zu meinen Füßen / Als wär‘s ein Stück von mir.“

Für Steinthal hat der Volksmund hier verbessernd gewirkt und Klarheit geschaffen: „Nicht ‚eine‘ Kugel, sondern die fatale kam geflogen. Er sieht sie kommen, und das ‚Gilt sie mir? Gilt sie dir?‘ schildert die Angst des Soldaten, die er aber um sich nicht mehr als um den Kameraden hat, was auch in dem Mangel des ‚oder‘ liegt, welches trennen würde. Den Wandel des ‚es‘ in ‚sie‘ kann ich nur billigen, denn das ‚es‘ der dritten Zeile ist ohne rechte Bedeutung. Eine Verbesserung wiederum ist ‚er lag zu meinen Füßen‘, parallel zu ‚er ging an meiner Seite‘.“ Uhlands Fassung scheint ihm nur „volksmäßig“, erst durch die Umsingungen werde ein echtes Volkslied daraus. Steinthal ahnt: „Dies geht durch die Jahrhunderte und breitet sich aus wie die Sprache des Volkes und mit ihr.“

Einspruch erhebt er im Namen des Volkes auch gegen die dritte Strophe. Er verwirft sowohl die „Sentimentalität“ des Sterbenden, der dem Kameraden die Hand reichen will, wie auch die „Härte“ des anderen, der die Hand nicht nimmt. Zudem mag er das Wort vom „ew‘gen Leben“ nicht, sie sei „abstract“. Aus diesen Gründen werde die dritte Strophe denn auch nirgends gesungen.

Aber die Stunde von Härte und Sentimentalität sollte noch kommen. Dem Lied stand sein Aufstieg zu unüberbietbarer Beliebtheit noch bevor. Im deutsch-französischen Krieg (1870 bis 1871) war es, wie das 1841 komponierte „Deutschlandlied“ August Heinrich Hoffmann von Fallerslebens – das erst seit 1952 mit der Melodie der „Kaiserhymne“ Joseph Haydns und dem Text der dritten Strophe die bundesdeutsche Nationalhymne ist –, nur ein Lied unter Liedern. Erst im Ersten Weltkrieg wurde es zum meistgesungenen Soldatenlied an allen deutschen Fronten. Das ergaben Umfragen, die Volkskundler in den Heerlagern gemacht hatten. Allerdings, so entdeckten sie, werde der „Gute Kamerad“ nicht länger wegen seiner ergreifenden, sondern wegen seiner begeisternden Wirkung gesungen.

Dazu muss man wissen, dass er jetzt nur noch zum wenigsten aus Uhlands Versen bestand, sondern aus einem Potpourri erzpatriotischer Kehrreime. Vorneweg wurden im Originalton jeweils die ersten drei Verse gesungen – aber dann: „Gloria, Gloria, Gloria Viktoria! / Ja mit Herz und Hand / fürs Vaterland, fürs Vaterland. / Die Vöglein im Walde, / die sangen all so wunderschön. / In der Heimat, in der Heimat, / da gibt‘s ein Wiedersehn.“

Noch im ersten Kriegsjahr brachten Uhland-Puristen ein Flugblatt heraus („Der ‚Gute Kamerad‘ in schlechter Verfassung“), in dem sie für derlei „Verhunzungen“ das „Eindringen von Operettenschlagern“ in die Alltagskultur verantwortlich machten. Doch den wahren Schuldigen entlarvte, kurz vor Kriegsende im August 1918, die Turn-Zeitung. Er heiße Wilhelm Lindemann, sei Kabarettist in Berlin und berühmt für die bösen Scherze, die er „zu Vortragszwecken“ mit vaterländischem Liedgut treibe. Kein Wunder, dass der an das Lied geklebte Kehrreim so komisch klingt; gesungen wurde er jedoch im Ernst.

Die Verteidiger des Kehrreims kamen der Sache näher. In ihren Streitschriften begrüßten sie das „Gloria“ als Ventilation „unsagbarer Gefühle“ zwischen Heimweh und Todesfurcht. Willkommen ist ihnen das Schlagwortgewitter des „Gloria“ auch, weil es wie ein nationales Glaubensbekenntnis tönt. Der „Gute Kamerad“ scheint heimgekehrt ins Kaiserreich, zum „Gemüt“ hat er endlich „Gesinnung“ erworben.

Konnte man mehr Recht behalten als Heyman Steinthal, der das Schicksal des Volkslieds mit dem der Volkssprache verbunden sah? Die Phrase beherrschte die öffentliche Rede – im Sinn von Karl Kraus‘ Erkenntnis, dass das erste Opfer des Kriegs immer die Sprache sei – und folglich Uhlands Lied.

Die nationale Vereinnahmung erzeugte aber auch ihr Gegenstück: die (bewusste) Parodie. Als von 1916 an die Siegeszuversicht schwand, blühten an allen Fronten die Spottversionen. Sie richteten sich gegen die miserable Versorgung („Ich hatt einen Katzenbraten“) oder schwelgten – teils mit pazifistischem Unterton – im Überdruss: „Ich hatt einen Kameraden, / Einen schlechtern findst du nit, / Er schleicht mir von der Seite / Und sagt: ‚I tu nit mit‘.“

Fortan wurde das Lied von allen Seiten beansprucht. Doch sein Sinnkern blieb unverletzt, mochten die Seiten noch so gegensätzlich sein. Den stärksten Beleg dafür liefert Wolfgang Langhoff in seinen „Moorsoldaten“, den Erinnerungen an seine Konzentrationslagerhaft in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Zeit: Die SS hat einen Häftling erschossen. Die anderen überlegen, wie sie dagegen „protestieren“ können. Als beim Appell der Befehl kommt: Singen!, stimmen sie den „Guten Kameraden“ an. Die SS-Männer sind irritiert. Einer fragt die Häftlinge: Wieso dieses Lied? Sie sagen es ihm, und er „stiefelt nachdenklich auf seinen Platz zurück“.

Ob sich deutsche Landser im Zweiten Weltkrieg durch Uhlands Lied bei ihren Vorgesetzten ähnlichen Erfolg verschafften, ist zweifelhaft, zumindest im folgenden Fall: Es scheint unglaublich, aber da getrauen sich ein paar Todgeweihte in ihrer Frontkämpferzeitung vom Dezember 1942 diese Zeilen zu drucken: „Wir hab‘n ein großen Führer / Einen größern findt ihr nicht. / Er führt durch blut‘ge Kriege / Vier Jahr lang uns zum Siege, / Doch das Ende sehn wir nicht. / Gloria, Gloria, Gloria Viktoria! / Für das Hakenkreuz, / Mit dem Ritterkreuz / Gehn wir zu Grab.“

Wie auch Ernst Buschs antifaschistische Neuschöpfung aus dem Spanischen Bürgerkrieg, gewidmet dem gefallenen Kommunisten Hans Beimler („Eine Kugel kam geflogen / aus der ‚Heimat‘ für ihn her“), belegt diese Variante den mythischen Charakter, den das Lied inzwischen angenommen hatte. Es ließ sich endlos aktualisieren, immerfort neuen Erfahrungen und Positionen angleichen, aber stets so, dass darunter der Urkamerad erkennbar blieb. Uhlands Lied wurde sozusagen ein Überschreiblied, eine Palimpsesthymne nach Art der mittelalterlichen Schreibvorlagen, die abgekratzt und wieder beschrieben werden konnten, und zwar so, dass die ältere unter der jüngeren Schrift noch lesbar war.

Warum aber entstand statt der zahllosen Überschreibungen kein neues Lied? Ein ganz persönliches, unverwechselbares? Fanden die Deutschen zu allen Zeiten im „Guten Kameraden“ ihre heimliche Hymne? Vielleicht wurde für jene, die auf Uhlands Form zurückgriffen, die eigene Erfahrung gerade in dieser Form vertrauter, glaubwürdiger, teilbarer und mitteilbarer.

Eine weitere Antwort gibt in seinen „Studien über die Deutschen“ Norbert Elias, der das Lied als Soldat im Ersten Weltkrieg kennen lernte. Die Deutschen hätten den „Guten Kameraden“ stets so inbrünstig gesungen, weil er ihr „verdüstertes Selbstgefühl“ ausdückte.

Dass ihre Lieder fast alle eine „starke Vorahnung des Todes“ erfülle, erkläre sich historisch: Vom 16. Jahrhundert an war Deutschland durch seine staatliche Schwäche viele Male Europas „Hauptkriegsschauplatz“. Vor allem der Dreißigjährige Krieg hinterließ traumatische Spuren im „Habitus der Deutschen“. Geblieben sei ihnen eine unauslöschliche Erinnerung an Zerstörung, Tod, Vergeblichkeit.

Elias weist so dem „Guten Kameraden“ seine Bedeutung im größtmöglichen Zeitraum deutscher Geschichte zu. Doch ist dieses unselige Kontinuum inzwischen beendet? Oder hat nur eine Zeit begonnen, in der Uhlands Lied nicht mehr benötigt wird? Es sieht so aus, zumindest wenn der Blick auf das Erscheinungsbild des „Guten Kameraden“ in Heiner Müllers frühem Drama „Die Schlacht“ fällt. Darin gibt es eine Szene, in der deutsche Soldaten des Zweiten Weltkriegs, vor Hunger dem Wahnsinn nah, zu Silchers Klang und Uhlands Worten einen toten Kameraden – verspeisen. Das ist die äußerste Katastrophe, die den „Guten Kameraden“ ereilen kann. Im kannibalischen Irrsinn des totalen Kriegs findet die Tübinger Romantik ihr Ende.

Seine bislang letzte Wiederkehr fand in den Stammheimer Zellen der RAF statt, und sie ist keine Erfindung. Stefan Aust zitiert in seinem Buch über den „Baader-Meinhof-Komplex“ aus einem konfiszierten Kassiber Gudrun Ensslins, in dem inmitten klein gehackter RAF-Prosa der Vers steht: „Ich hatt einen Kameraden“. Er blitzt auf, als die Verfasserin Mitte der Siebzigerjahre sich wieder einmal zugunsten Baaders gegen die „Verräterin“ Meinhof entscheidet.

Der „Gute Kamerad“ als Orientierungshelfer im Feld zwischen Freund und Feind. So kompliziert konnte im Volksbefreiungskrieg die Lage sein.

KURT OESTERLE, 46, freier Autor in Tübingen, schreibt unter anderem für das Schwäbische Tagblatt. Das Lied vom „Guten Kameraden“ hörte er als Mitglied seiner Kirchengemeinde am Volkstrauertag während seiner Schulzeit: „Es hat mich seltsam berührt. Ich konnte damals nur ahnen, dass es den Menschen in meiner Umgebung etwas bedeutet – mehr jedenfalls als ein Heldengedenklied.“