„Das wäre die Demenz“

Demnächst mit 40 Prozent mehr Tiefgang: Der Ärzte-Sänger Farin Urlaub über Arno Schmidt, was einen zeitlos guten Song ausmacht, und über den provokanten Mut zur immer währenden Pubertät

taz: Herr Urlaub, Sie sind 38. Wie verweigert man sich trotzdem so erfolgreich dem Erwachsenwerden, um einen Song wie „1.000 Jahre schlechten Sex“ schreiben zu können?

Farin Urlaub: Der ist superpubertär, da stimme ich zu. Bei dem Lied habe ich auch bis zum Schluss überlegt, ob ich es auf meine Platte nehme. Aber irgendwann habe ich mir gesagt: Mut zur Pubertät.

Ihr Stück „Das schöne Mädchen“ ist auch ein wenig naiv.

Schon mal Novalis-Texte gelesen? Heine hat selbst auf seinem Sterbebett noch völlig simple Liebesgedichte geschrieben, in denen sich Herz auf Schmerz reimt. Zu sagen, dass man keine simple Liebeslyrik schreiben darf, wenn man erwachsen sein will, das finde ich unfair.

Ich habe nicht gesagt, dass man das nicht darf.

Nee, aber dass es nicht erwachsen ist. Ich fühle mich schon sehr, sehr lange als erwachsen. Aber heißt das denn, dass ich das schwere Philosophenschwert schwingen muss? Diesen Vorwurf mache ich Arno Schmidt: Warum schreibt der, wenn er verstanden werden will, nicht ein Buch, das man auch verstehen kann? Ich denke, dass meine Gedanken relativ komplex und erwachsen sind. Aber ein Lied wie „Jeden Tag Sonntag“, das ist die pure, frisch verliebte Fröhlichkeit. Und die möchte ich gar nicht intelligenter formulieren, als es da formuliert ist.

Allzu komplex sind alle Ihre Texte nicht. Ihre Single „Glücklich“ hat nur eine Aussage: Sei froh, egal was du tust.

Das ist ein Dreiminutensong und kein Buch. Hätte ich ein Buch geschrieben und die gleiche Sprache benutzt, dann würde ich den Vorwurf anerkennen. Aber ich seh schon: Für die taz muss ich das nächste Mal eine Special Edition machen: Diesmal mit bis zu 40 Prozent mehr Tiefgang.

Sind Sie selbst immerzu glücklich?

Immer nur glücklich? Das wäre, glaube ich, die Demenz. Aber ich bin schon überdurchschnittlich viel glücklich. Was zum Beispiel damit zu tun hat, dass ich machen darf, was ich liebe. Und weil ich damit auch noch so viel verdiene, dass ich alle meine Hobbys durchziehen kann. Ich will mit niemandem tauschen.

Ein glücklicher Rockstar?

Wir, die Ärzte, sind ja keine Rockstars wie andere. Keiner von uns braucht Bodyguards, um einzukaufen oder auszugehen. Es wäre unvorsichtig von mir, in eine Teenie-Disco zu gehen, aber da zieht es mich eh nicht mehr hin. Früher, als der Altersunterschied noch nicht so groß war, da hatten wir sehr fanatische Fans. Ich glaube, das hat was mit dem sexuellen Unterton zu tun: Die Fans machen in ihren Fantasien mit dem Star die ersten sexuellen Gehversuche. Jetzt sind wir zu alt, um für Teenies noch als Sexobjekte herzuhalten. Das mit den Ohnmächtigen bei unseren Konzerten hat doch sehr stark nachgelassen.

Sie haben angeblich noch mehr als 60 unveröffentlichte Songs im Schrank. Was haben Sie damit vor?

Die sind meine Rente. Irgendwann werden sich Die Ärzte ja mal auflösen, und wenn die Leute dann sagen, ihr fehlt uns, dann kann ich eine Dreifach-CD mit unveröffentlichten Demos rausbringen.

Gibt es eine Halbwertzeit für gute Songs?

Es gibt auf jeden Fall zeitlose Songs. „Love Will Tear Us Apart“ von Joy Division wird wahrscheinlich noch in 200 Jahren fantastisch sein – wenn man dann die Sprache noch versteht.

Neulich habe ich einen Vortrag von einem Semantiker über die Halbwertszeit von Sprache gelesen, das war ziemlich beängstigend. Ich kann mir vorstellen, dass man in 20 Jahren die Comedian Harmonists nicht mehr versteht. Vielleicht noch bruchstückhaft, aber dass man den Witz nicht mehr nachvollziehen kann. Manche Worte sterben rasend schnell aus.

Was macht einen Song zeitlos?

Das er dich berührt, und das ist wohl sehr individuell. Ich kann mir vorstellen, dass es Leute gibt, die ernsthaft Tränen in den Augen haben, wenn sie „Brother Louie“ von Modern Talking hören, weil sie damals zum ersten Mal verliebt waren.

Ist es aber nicht so, dass ein zeitloser Song solche persönlichen Konnotationen gar nicht nötig hat?

Ist „Yesterday“ ein objektiv gutes Stück? Ich denke, man könnte die Definition wagen: Ein Stück, das die größtmögliche Menge an Menschen zu ähnlichen Gefühlen anregt, das wird ein zeitloser Song, wenn er das nach 20, 30 Jahren auch noch bei immer neuen Leuten schafft.

Die Ärzte sind mittlerweile Klassiker geworden. Sie können es sich sogar leisten, das Medium Fernsehen weitgehend zu ignorieren.

Es gibt keine Fernsehsendung, jedenfalls keine bekanntere, in der zwei Menschen sich intelligent unterhalten können und die Kamera hält drauf. Deswegen muss man im Medium Fernsehen halt Quatsch machen. Also gehen Die Ärzte nur zu MTV, Viva und Harald Schmidt – und selbst bei Schmidt, wo noch am ehesten ein Gespräch zu Stande kommt, wird meistens nur Quatsch gemacht, weil es anders nicht funktioniert.

Fernsehen ist halt ein Klamauk-Medium, und ich kann ja nicht alleine die Zuschauer umerziehen wollen. Wir als Ärzte haben ja auch gar nicht den Zwang, Integrität für eine bestimmte Szene demonstrieren zu müssen. Trotzdem glaube ich aber, dass wir – und das sage ich mit kaum verhohlenem Stolz – ziemlich integer sind. Einfach deshalb, weil wir so erfolgreich waren, dass wir uns auch viele Sachen finanziell leisten können, die sich andere Bands zehnmal überlegen müssen. Das macht es einfach. Denn Integrität bedeutet für uns zwar finanzielle Verluste – aber keine tragischen.