Meine liebenswerte Kerkermeisterin

Immer schön unnett sein – und auf die Röcke achten: Eine Geschichte über die Liebe in den Zeiten der Staatssicherheit

Niemals war eine meiner Lehrerinnen in mich verliebt, dafür aber so eine Stasi-Frau vom Rat des Stadtbezirk Hohenschönhausen, Abteilung Innere Angelegenheiten. Sie wollte mich nicht gehen lassen, obwohl ich schon zwischen 20 und 30 Ausreiseanträge gestellt hatte. Mir war es in der DDR zu langweilig, zu unpoppig, zu abtötend. Viele Menschen setzten schon mit Anfang 20 alles daran, ihren Traum wahr werden zu lassen: Kinder kriegen, heiraten, Kinder töten, scheiden lassen.

Welch Erfüllung. Zurück zur Stasi-Frau. Wir verstanden uns gut. Ich musste ihr nicht das Märchen von den fehlenden Reise - und Meinungsfreiheiten wiederkäuen. Das hatte ich seit Mai 86 schon so oft erzählt. Damals setzten sie mir in einem spärlich eingerichteten Raum drei Freiheitsräuber gegenüber. Einer fragte, „weshalb und warum?“

Ich antwortete, „deshalb und darum!“

Der Nächste fragte genau dasselbe. Ich sagte: „Sie hab’n doch die janze Zeit am Tisch jesessen! Hab’n Sie nich’ aufjepasst?“

„Ja, aber ich möchte es noch einmal von Ihnen persönlich hören!“ Der Dritte hatte eine ähnliche Auffassungsgabe.

So ging das fast drei Jahre, jeden zweiten oder dritten Dienstagnachmittag, jeweils eine Stunde. Die plappernden Tagträumer erzählten mir etwas von sozialer Sicherheit und gesellschaftlicher Geborgenheit. Das klang gut, aber was war das schon gegen Punkrock und Pornografie?

Anfang 89 signalisierten sie mir die baldige Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR. Damit ich sie nicht in allzu schlechter Erinnerung behielt, setzten sie mir während der letzten Sprechstunden eine liebenswerte Kerkermeisterin vor: so eine zarte Mittzwanzigerin mit einer süßen Mireille-Mathieu-Frisur.

Ihre erste frühsommerliche Bräune milderte die verräterische Blässe ihrer schlechten Ernährung. Sie trug ein himmelblaues Hemdchen. Unter dem Verhandlungstisch versteckte sie einen langen schwarzen Rock mit Sonnenblumen. Ich hatte ihn schon gesehen.

Während sie mich hereinbat und umgehend zum Verhandlungstisch eilte, drückte sie an der Innenseite vom Tischbein auf den Aufnahmeknopf. Weshalb setzte mir die Stasi dieses real existierende Fabelwesen nicht schon während der Pubertät vor? Dann wäre ich ein Spitzel geworden. Wir sprachen über unsere Urlaubsreisen. Ich sagte, „Ach, bevor ick übersiedel, fahr ick noch mal an die Ostsee. Und dann, mal sehen. Afrika, Amerika, Asien. Eben Alltag im Westen!“

Sie antwortete: „Ja, ich fahre ein letztes Mal nach Ungarn und im Übrigen geht es mit der DDR so nicht weiter.“ Sie kuckte so vielsagend, ich verstand nichts.

Irgendwie dachte ich nur, dass sie mich niemals rüberlassen würden, wenn wir uns immer nur nett unterhielten. Was sollte ich machen? Mit der Faust auf den Tisch hauen? Wahrscheinlich würde ich dann ganz viele Beschützerhormone ausschütten, woraufhin sie mir möglicherweise um den Hals fallen würde! Das kannte ich schon aus der Schule: Wenn ich zu einer Schülerin nett war, durfte ich ihre Schultasche tragen, und wenn ich mal eine beleidigte, fragte sie, ob ich schon eine Freundin hätte. Ob in der Schule, in der Klubgaststätte oder im Rat des Stadtbezirk Hohenschönhausen: Höflichkeit brachte nichts. Für die nächste Sprechstunde nahm ich mir vor, demonstrativ herumzupoltern. Unaufgefordert trat ich ein und sagte: „Guten Tag! Ick liebe Sie nich’!“

Sie kuckte überrascht, ja sogar ein wenig traurig. Nun bat sie mich eindringlich, nichts Unbedachtes zu machen. Was sollte das schon wieder heißen?

Einige Wochen später durfte ich meinen Personalausweis gegen eine Identitätsbescheinigung eintauschen. Im Juli 89 ging ich fröhlich rüber. Nein, die große Liebe war es nicht. Heutzutage sehen wir uns nur, wenn der Verfassungsschutz ein Fest veranstaltet. Ihre langen blonden Haare sind aus Kunst und ihre solariumbraune Haut ist aus Leder. Wir tun immer so, als ob wir uns nicht kennen. Na und? Dafür treffe ich mich heute häufig mit einer meiner Lehrerinnen.

ANDREAS GLÄSER