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: Geteiltes Echo auf den Nobelpreis für V.S. Naipaul

Keine heiligen Kühe

„Unglaublich“, lautete der Titel des Kommentars der Tageszeitung Indian Express zum Nobelpreis für V. S. Naipaul. Der englische Ausdruck „Beyond Belief“ war dabei nicht nur eine Anspielung auf eines seiner Bücher. Unglaublich war in erster Linie die Überraschung, dass diese Wahl ausgerechnet jetzt fiel – in einen Augenblick, in dem eine geschockte Welt Zivilisationsgrenzen zieht und Kulturvergleiche anstellt, zu denen auch Naipaul dezidiert und wie immer kontrovers Stellung bezogen hat.

Die erste Geste war aber eine der Aneignung. Viele Zeitungen, die in diesem Akronym-versessenen Land vom verlorenen Sohn sonst nur mit „VS“ redeten, sprachen nun auffallend oft von „Vidiadhar Surajprasad Naipaul“, um so die ethnische Familienherkunft klarzustellen. Und „Sir Vidia“ zeigte sich großzügig. In seinem Dankestelegramm erklärte er, der Preis sei eine große Ehre – für „England, mein Wohnland, und für Indien, die Heimat meiner Vorfahren“.

Seine Schriftstellerkollegen, eine Reihe von ihnen persönliche Freunde, befanden einstimmig, dass der Preis für Naipaul überfällig war. Es waren vor allem jüngere Schriftsteller, die neben ihrer Freude auch mit Kritik nicht zurückhielten. Sie traf nur indirekt den Preisträger und richtete sich in erster Linie gegen die Entscheidung, die der Indian Express als „einen der politisch inkorrektesten Beschlüsse aller Nobelpreiskomitees“ bewertete. Erst vor einer Woche hatte Naipaul bei einer Lesung aus seinem neuen Buch „Half a Life“ in London über die „unheilvolle Wirkung des Islam“ gesprochen und ihn mit dem Kolonialismus verglichen: „Bekehrt zu werden heißt, dass du deine Vergangenheit, deine Geschichte zerstören musst“, zitierte ihn die Zeitung Asian Age. Die Geschichte Pakistans hatte er als eine „Schreckensgeschichte“ qualifiziert.

Darauf angesprochen, erkannte die Lyrikerin und Linguistin Rukmini Bhayya Nair in Naipaul einen literarischen Meister. „Doch der Zeitpunkt verstört. Im Licht der jüngsten Weltereignisse kann man nur staunen, dass die Wahl gerade jetzt auf Naipaul fällt, einen der schärfsten und offensten Kritiker des Islam.“ Die Schriftstellerin Gita Hariharan erinnerte in ihrer spontanen Stellungnahme an die Zerstörung der Ayodhya-Moschee durch Hindu-Fanatiker im Jahr 1992. Sie hatte Naipaul damals – bei aller eingestandenen Ambivalenz – veranlasst, darin das gewaltsame Aufbrechen einer dieser „unterdrückten Geschichten“ zu sehen, für deren Beschreibung das Nobelpreis-Komitee Naipaul lobt. In diesem Fall wäre es die unterdrückte Geschichte der Hindus gegen die Entfremdung von islamischen und westlichen Kolonisatoren gewesen. „Er ist ohne Zweifel ein großer Schriftsteller“ meinte Hariharan, „aber ein Preis wie dieser feiert mehr als nur die literarischen Qualitäten des Auserwählten.“

Khushwant Singh, wie Naipaul ein literarischen Navigator zwischen Journalismus, Roman und Essay, tat solche Kritik kurzerhand als Verschwörungstheorie ab – typisch für Inder, „die immer alles in solche Zufälle hineinlesen“.

Andere Stimmen verteidigen Naipaul mit dem Hinweis auf dessen Lust, heilige Kühe zu schlachten – etwa, indem er mit seiner Kritik an Tony Blair, James Joyce, E. M. Forster oder dem in Indien hochverehrte Schriftsteller R. K.Narayan nicht hinter dem Berg hielt. Solche Kritiker sehen darin auch eine der großen Qualitäten Naipauls hindurchscheinen: seine unerbittliche Ehrlichkeit gegenüber dem, was sein Auge wahrnimmt und seine Feder festhält. Der Indian Express erinnert an den brutalen Spiegel, den Naipaul Indien entgegenhielt, als er 1961 die Heimat seiner Vorfahren bereiste und als eine „Zone der Dunkelheit“ und „Eine verwundete Zivilisation“ diagnostizierte. Aber Naipaul scheute sich nicht, diese Erfahrung in seinen späteren Reisen und Büchern als Teil seiner Suche nach einer imaginären Heimat zu korrigieren. In „India: A Million Mutinies Now“ sieht er ein Indien, das im Aufbruch begriffen ist, konfus und voller Gewalt, aber auch im Begriff, sich aus der „Lethargie der Armut und des Teufelskreises von Karma, von Göttern und Heiligkeit zu befreien“ (Ian Buruma). Das Land, das er von sich gewiesen hatte, so meint der Indian Express, wurde wieder zu seinem eigenen, „nicht dank seiner Herkunft, sondern durch den Akt seines Schreibens“.

BERNARD IMHASLY