Rock den Strichcode

Schriften zu Zeitschriften: Die neue Ausgabe von „testcard“ beschäftigt sich mit Zukunftsmodellen in Sachen Pop. Umgebaute Gameboys sind dabei – und Chris Cunninghams Video-Alpträume auch

von ULF IMWIEHE

Schon das Titelbild fordert, den altbekannten Punkslogan aufgreifend, eine Entscheidung: No oder Future – bitte clicken Sie hier!

Zukunftsmusik ist das Thema der zehnten Ausgabe des halbjährlichen Kompendiums testcard – Beiträge zur Popgeschichte, und so vage dieser Oberbegriff die Richtung weist, so vielfältig sind die Ansätze der AutorInnen. Von Geschlechterrollen im Radio über die ökonomische Vereinnahmung punktypischer Mechanismen bis hin zur Paranoia als Leitmotiv der Science-Fiction spannt sich der Bogen. In allen Texten geht es um die Zukunft der Popkultur, um den Pop der Zukunft.

Bei allem Hang zur Theorie lässt die Redaktion dabei den an solcher Stelle immer drohenden Muff eines Semiotik-Fanzines für 1.000-Watt-Gehirne weitestgehend draußen. Akademische Kopfnüsse bleiben auf ein Minimum beschränkt, was den Lesegenuss nur fördert. Und wie so häufig, wenn es um Futurismen geht, gibt es einiges über Gegenwart zu erfahren: so etwa in der Reflexion des Intro Chefredakteur Thomas Venkers über die Realität des Musikjournalismus 2001, der seiner Ansicht nach mehr denn je in die Infotainment-Falle zu tappen droht. Wenn Plattenfirmen wegen mp3-Phobie und Angst vor Raubkopierern CDs von Künstlern ab einer bestimmten Größe vorab gar nicht oder unvollständig zur Verfügung stellen und stattdessen geladene PressevertreterInnen zu streng geheimen Listening-Sessions versammeln, sieht Venker die objektive und fundierte Auseinandersetzung verloren. Musikjournalismus werde so als publizistische Erweiterung der Produktinformation missbraucht. Pressekonferenzen statt Interviews oder gar Round-Table-Gespräche mit ausgesuchten JournalistInnen tun ein Übriges. Venker ist dabei an jeder Stelle ganz der idealistische Musikliebhaber, der dem wachsenden Warenstatus seines Arbeitsobjektes mit Skepsis bis Abscheu begegnet und nach Lösungen mal rebellischer, mal bürokratischer Art sucht, die ganz gewiss noch für Diskussionen sorgen werden.

Mehr auf mögliche neue Musik-elektronische Arbeitsweisen und Ästhetik verweist das Interview von Ina Beyer mit Diego Badian und Günter Schroth, beide Musikproduzenten in einem eher marginalem Feld der Elektronik. Diego Badian komponiert seine minimalistischen Tracks mit dem Gameboy. Mittels des Programms Nanoloop, einer Sound-Cartridge, die sich wie ein Spiel in das Gerät einführen lässt und Zugriff auf verschiedene Parameter von Klangerzeugung und Sequencing erlaubt, wird daraus eine zeitgemäße Version der Wandergitarre. Noch skurriler und dabei so nahe liegend sind die Soundquellen, die Günter Schroth verwendet. Strichcodes unterschiedlicher Produktverpackungen liest er mit einem Supermarktscanner ein und wandelt die codierte Zahlenfolge mit Hilfe eines eigens zu diesem Zweck entwickelten Programms sowie Synthesizern und Computern in Tonfolgen um, die er intuitiv live, aber auch im Studio bearbeitet. Schrulliger Jungskram einerseits, politisch aufgeladen nicht minder. Für Günter Schroth jedoch ist der mögliche Hintersinn seiner Arbeit eher nebensächlich.

Ganz im Gegensatz zu Chris Cunningham. Der britische Künstler und Regisseur Aufsehen erregender Musikvideos für Aphex Twin, Björk oder auch Leftfield wird von Oliver Kreutzer umfassend gewürdigt. Cunninghams meist düstere Arbeiten und deren immer wiederkehrendes Topic des Körpers in allen Stadien der Mutation und Reorganisation werden von Kreutzer in Beziehung zu ähnlichen Sujets im Horror-, Splatter- und Science-Fiction-Film gesetzt, doch macht die Analyse dieser Bilderwelt nicht bei den abgebildeten Motiven Halt. Viel mehr legt Kreutzer sehr schön die Bedeutung der Montage und Handhabung des Materials und die sich daraus ergebende Referenz der Wahrnehmung und Realität dar. Das ist Cunninghams eigentliches Verdienst, neben der rein ästhetischen Grenzerweiterung im Musikvideo. Diese Feinarbeit am Material passt ins Konzept von testcard. Click. Future.

testcard – Beiträge zur Popgeschichte, Nr. 10, 304 S., 28 DM, Ventil Verlag, Mainz