Wie wird man Terrorist?

Der Unterschied zwischen einer Religion und ihrem Fundamentalismus sollte uns nicht abhalten, die Verbindungen zwischen beiden zu untersuchen. Ein Plädoyer für die Analyse des Anderen

von JULIA KRISTEVA

Rechtschaffene Bürger in Amerika und anderswo, Nachbarn oder Mitschüler der in die Anschläge von Washington und New York verwickelten Kamikazepiloten, haben ihre Verblüffung darüber geäußert, dass sich ein Familienvater, ein eifriger Student oder ein sanftmütiger Gläubiger als grauenvoller Mörder entpuppen kann. Das gleiche ungläubige Erstaunen zeigen bei anderer Gelegenheit Nachbarn und Mitschüler eines Serienmörders oder Kinderschänders. Jahrzehnte des Rationalismus und Positivismus haben bei vielen von uns die Neigung entstehen lassen, sich den Menschen als ein vernünftiges Tier vorzustellen, geleitet von einer einzigen, klar ersichtlichen Logik. „Wie kann man bloß Terrorist sein?“, grämt sich nun die Vernunft und wirft das Handtuch. Da das politische und kulturelle Bewusstsein der Massen von den Erkenntnissen der Psychoanalyse unberührt geblieben ist, tun wir uns mit der Vorstellung schwer, dass der Anschein nicht dem Sein entspricht. Dass eine Person eine Persönlichkeit zur Schau tragen kann, hinter der sich, durch Psychose oder Perversion erzwungen, Abgründe des Begehrens auftun, bei denen es sich ganz entschieden um Todessehnsucht handelt.

Der Verweis auf wirtschaftliches Elend, das einen Menschen zu Selbstmord und Massaker treibt, sollte uns nicht der Sorge entheben, den unbewussten Anteil menschlichen Verhaltens genauer auszuloten. Es wäre an der Zeit, dass uns die Neubewertung unseres Fortschrittsglaubens dazu bringt, unseren psychologischen Blick zu schärfen. Ich plädiere nicht für mehr Misstrauen, sondern für weniger Naivität in der Betrachtung des Anderen. Die Religionen, die das Böse exorzierten und von der Hölle sprachen, waren weniger blauäugig als wir. Wir haben nicht schon dadurch an Hellsicht gewonnen, dass wir uns weigern, an dergleichen zu glauben: wir sollten unbedingt ein Sensorium für ihre konkretesten und verborgensten Spielarten entwickeln, die aufzuspüren Anthropologie und Psychoanalyse uns glücklicherweise erlauben. Eine langwierige pädagogische Arbeit steht uns bevor.

Umso mehr, als die Religionen diese unbewussten, affektiven, polymorphen Triebkräfte nicht nur nicht unterschätzen, sondern sich ihrer zu bedienen wissen, zum Guten wie zum Bösen. Ist es nicht ein Armutszeugnis, dass der brutale Atheismus des sowjetischen Kommunismus unter dem Deckmantel der Toleranz nur durch eine einzige mögliche Einstellung hat ersetzt werden können: die Nachsicht gegenüber allem Religiösen, die von Amerikanern und Europäern im Austausch gegen die Ideologien geübt wurde. Friedliebende Gelehrte verbreiten gegenwärtig über die Mikrofone respektabler Radiosender theologische Exegesen anstatt Analysen. Aus Angst, die religiösen Konflikte anzuheizen, beschränkt man sich darauf, die positiven Seiten einer religiösen Lehre (die durchaus real sind) hervorzuheben, und unterschlägt nicht nur die irrationalen Kehrseiten, die für diese Lehre konstitutiv (und nicht minder real) sind, sondern vor allem die Auslegungen, die diese vieldeutigen Texte begleiten und in Kombination mit Elend und Emotionen Terrorismus zur Folge haben. Dass es einen Unterschied gibt zwischen einer Religion und ihrem Fundamentalismus, sollte uns nicht davon abhalten, in aller Gelassenheit und ohne uns zu ereifern die Querverbindungen zwischen beiden zu untersuchen. Denn in Gedanken an ein paar Zeilen einer dieser Lehren lässt ein Terrorist ein Flugzeug explodieren, nicht in Gedanken an eine Sonate von Mozart, einen Vers von Shakespeare oder ein Gemälde von Picasso!

Man hat in Huntingtons Arbeiten über die Weltkulturen, die auf religiöse Konflikte zusteuern, die Feststellung eines unausweichlichen Schicksals sehen wollen. Gleichwohl ist es möglich, sie als Aufforderung zu verstehen, die innere Logik religiöser Traditionen besser zu verstehen, ihre Vorzüge wie ihre Sackgassen genauer zu analysieren. Anstatt sie zu imaginären Lösungen in Krisenzeiten zu erheben, zu denen sie durch das wirtschaftliche Elend, aber auch durch unsere Duldsamkeit gegenüber imaginären Lösungen geworden sind. Das Jahrhundert der Aufklärung hat durchaus seine Fortsetzung in den modernen Geisteswissenschaften gefunden, die uns dem Fanatismus gegenüber nicht so hilflos dastehen lassen, wie manche meinen. Stellen wir nicht voreilig das Licht jener Aufklärung unter den Scheffel von Toleranz und Multikulturalismus.

(Übers: Christian Hansen)