Einsatz in Manhattan

Der Einbruch ins Alltägliche. Über die Kunst nach dem großen Knall. Die großen Museen erheben während der traurigen und schweren Zeit keinen Eintritt. Die „New York Times“ bemüht Aby Warburgs Kunsttheorie, um in den berstenden Türmen des WTC die Pathosformel unserer Zeit zu erkennen

Die wiederholten Filmaufnahmen sind die Pathosformel unserer Zeit Der neue Laokoon,der unsere Vorstellungskraft herausfordert

von THOMAS GIRST

In gemeinsam geschalteten Anzeigen weisen Manhattans große Museen darauf hin, dass sie für Besucher während dieser „traurigen und schweren Zeit“ keinen Eintritt erheben werden. „Als kulturelle Meilensteine dieser bedeutenden Stadt sind unsere Museen lebende Monumente des Triumphs und des Durchhaltevermögens menschlicher Schaffenskraft. Wir bieten Schonräume der Ruhe und des Innehaltens und hoffen, den Bürgern New Yorks damit ein wenig Trost spenden zu können.“ Trost spenden wollen auch die Opernhäuser, die Musicals und Theater am Broadway. Die Metropolitan Opera will darüber hinaus zwei Millionen Dollar für die Opfer des Terroranschlags sammeln, und die League of American Theatres and Producers empfiehlt, dass alle Ensembles auf dem Broadway nach der Aufführung patriotische Lieder singen. Im Fall des derzeit auf dem Broadway erfolgreichsten Musicals, des die Nazizeit verballhornenden Singstück „The Producers“ von Mel Brooks, schmettern die Schauspieler im Anschluss an die Show „God Bless America“ vom Bühnenrand, in voller SS-Kostümierung. Die rechte Hand dabei ebenso auf der Brust wie das Publikum, das sich aus den Sitzen erhoben hat. Auch im Radio halten die patriotischen Lieder Einzug. Auf allen Stationen – mit Ausnahme jener drei, die ihre Sendeantennen auf dem World Trade Center hatten – hört man nach werbefreien Tagen reiner Nachrichten jetzt häufig Lee Greenwoods „God Bless the USA“ und Whitney Houstons Version des „Star-Spangled Banner“. Natürlich auch Sinatras „New York, New York“ und vor allem „Born in the USA“ von Bruce Springsteen, der sich vor Jahren geweigert hatte, die Nutzung seines Lieds an die Werbekampagne einer Autofirma abzutreten.

Bei der Wiedereröffnung aller kulturellen Institutionen in Manhattan geht es jetzt vor allem darum, Normalität zu demonstrieren, sich nicht unterkriegen zu lassen. Mut daraus zu schöpfen, dass nach außen hin der Schein gewahrt bleibt. Kehrt auf der Oberfläche wieder der Alltag ein, so vermag jeder Einzelne durch die Verrichtung seiner gewohnten Arbeit zu zeigen, dass der Terrorismus dieser Stadt und den nicht unmittelbar Betroffenen aber auch gar nichts anhaben kann. Zumindest nördlich der Demarkationslinie an der Canal Street, die den Rest Manhattans von „Ground Zero“, dem Epizentrum der Explosion, abtrennt. Ausgenommen der New York Stock Exchange, die am Montag wieder ihren Betrieb nur wenige hundert Meter von dort entfernt aufnahm, wo am 11. September noch das World Trade Center stand.

Aber wie den Terror zeigen? Ist es überhaupt möglich, ihn visuell erfahrbar zu machen? Fünf Tage nach dem Unglück bildet die New York Times in ihrem Feuilleton die berühmte Marmorskulptur des sterbenden Laokoon und seiner Söhne halbseitig ab. Titel des Artikels: „Die Formel für die Darstellung von Schmerz in der bildenden Kunst“. Sarah Boxer beruft sich auf Aby Warburgs Idee von der Pathosformel, der in ihr eben kein arbiträres Zeichen, sondern ein unmittelbar bedeutendes Symbol leiblicher Erfahrung sah, die in bewegten Formen Ausdruck findet. Die Autorin überträgt dieses Schema auf die expressive Kraft lebloser Gegenstände und nimmt direkt auf die Explosion des World Trade Centers Bezug: „Die wiederholt gezeigten Filmaufnahmen sind vielleicht die Pathosformel unserer Zeit, dazu bestimmt, immer wieder unsere Vorstellungskraft herauszufordern, der neueste Laokoon.“

Die ersten künstlerischen Darstellungen der Katastrophe in Manhattan kamen seitens der Illustratoren, die in den USA sehr viel mehr als in Deutschland die Meinungsseiten der großen Zeitungen visuell bereichern. Die bekanntesten unter ihnen, die genau wie die Redakteure unter immensem Zeitdruck arbeiten, weigerten sich aber, das Ereignis bildlich umzusetzen. Einzig der altbekannte Zeichner R. O. Blechman malte in den ersten Tagen ein Herz, das von den scharfkantigen Umrissen des World Trade Centers wegradiert zu werden scheint. Konsequent ließ vergangenen Montag der New Yorker erstmalig in seiner über 70-jährigen Geschichte sein Cover ganz schwarz.

New York Arts, Manhattans monatlich erscheinendes Kunstmagazin, bat in einem Rundbrief an seine Autoren um Abbildungen für eine Bildstrecke. Man möchte Kunstwerke zeigen, die im Nachhinein in Bezug auf das Desaster beinahe prophetisch wirken sollen. „Shirin Neshats Bilder von iranischen Frauen mit Schusswaffen“ einerseits, „Jeff Koons’ amerikanische Kitschkunst, mit Arbeiten wie ‚Michael Jackson und sein Affe Bubbles‘“ andererseits. Überall in der Kunst tut man sich offensichtlich schwer mit der Darstellbarkeit der Katastrophe, die sich ja in ihrer Wirkung immer erst an den schrecklichen Fernsehbildern messen lassen muss, die sie zur Grundlage nimmt. Sarah Boxers Erweiterung der warburgschen Kunsttheorie, die direkte Übertragung der Pathosformel für Schmerz auf die bewegten Dokumentarbilder des explodierenden World Trade Centers als ultimative Horrorvision, mag da einen Ausweg weisen.

Dabei entfaltet die Leblosigkeit des Gebäudes seinen ganzen Schrecken erst in Gedanken an die in ihm und in den Flugzeugen befindlichen Menschen. So wenig wie die amerikanischen Fernsehsender in den ersten Tagen in ungewöhnlicher Selbstzensur die Straßenfeier im Libanon zeigten, so wenig zeigten sie auch die aus dem WTC stürzenden Menschen, die alle Augenzeugen sahen. Ausgerechnet die New York Times machte dabei eine Ausnahme. Auf Seite 7 zeigte sie am 12. September, am Tag danach, die Farbfotografie eines Mannes, der sich aus Verzweiflung in den Tod stürzt. Der schreckliche Eindruck dieses Bildes brachte der NYT den Vorwurf ein, Sensation zu machen. Obwohl diesbezüglich wütende Leserbriefe nicht gedruckt wurden, erhielten protestierende Leser ein Antwortschreiben via E-Mail. Darin äußerte man Bedauern darüber, dass bei manchen Lesern der Eindruck entstanden sei, man habe durch die Publikation des Fotos die „community“ verletzt. Außerdem, argumentiert die Zeitung, könne man die Person auf dem Foto nicht identifizieren. „But this is an extraordinary time, and an extraordinary event. That picture helped our readers to understand HOW extraordinary.“

Für all jene, die nicht direkt durch den Verlust von Angehörigen und Freunden betroffen sind, wird die Unvereinbarkeit des Ereignisses mit allem, was davor war, durch die Zweckentfremdung der Gebäude Manhattans deutlich. Chelsea Piers, das mondäne Sportzentrum an der Westseite Manhattans, am Ufer des Hudson gelegen, dient jetzt als Leichenhalle. Das große Armory Gebäude auf der 26. Straße Ecke Lexington Avenue ist jetzt die Zentrale, in der die Protokolle zu allen Vermissten aufgenommen werden. Ein Bronzeschild am Eingang verweist darauf, dass hier 1913 die Armory Show stattfand, eine revolutionäre Ausstellung, die den Amerikanern erstmalig die neuen Tendenzen europäischer Kunst vor die geschockten Augen führte, von Impressionismus bis Kubismus.

Für heute hat sich die Kunst aus Manhattan zurückgezogen. Kunst setzt die Möglichkeit distanzierter Reflexion voraus, und selbst wenn sie heute neu entsteht, so wird heute nicht darüber geschrieben werden. Solange noch tausende Leichen aus den Trümmern geborgen werden. Mit dem unmittelbaren Schrecken darf und will sie nicht konkurrieren. Die Skulpturen New Yorks, das sind jetzt die Trümmer selbst, die zerborstenen, zum Teil noch wacklig stehenden Fassaden des World Trade Centers aus verdrehtem Stahl. Sowie jene „make-shift memorials“ und „Walls of Prayer“, die überall in der Stadt entstehen, gepflastert mit beinahe unzähligen Fotos und Beschreibungen der Vermissten, von verzweifelten Angehörigen dort angebracht.