Ein Diebstahl aus Liebe

Natürlich kann er noch: Bob Dylan hat mit seinem neuen Album „Love and Theft“ zu alter Wortgewaltigkeit zurückgefunden. Nach Irrwegen als Prophet und Racheengel wildert er nun zeitnah im Gestus und in den Liedern längst verstorbener Vorbilder

„Love And Theft“ ist eine Dekadencollage, vom Ballroom-Jazz zum Rockabilly-Style

von MAX DAX

Auf dem Blatt Papier liest es sich wie eine Schaffenspause: Seit dem Erscheinen von „Time Out Of Mind“ 1997, das von der Presse allgemein als künstlerisches Comeback Bob Dylans gewertet worden war, hat der Mann bis heute kein Studioalbum mehr veröffentlicht. Vier Jahre, das ist fast ein halbes Jahrzehnt – im Informationszeitalter eine halbe Ewigkeit. Doch der Blick täuscht.

Über 450 Konzerte hat Bob Dylan weltweit in den letzten vier Jahren gegeben, parzelliert in Reisen durch Kontinente oder Landstriche, mit Gästen wie Paul Simon oder Van Morrison. Auf diesen Tourneen hat Dylan nicht nur sein Werk einer Revision unterzogen. Er hat auch seinen eigenen Status neu definiert. Vorbei scheint die Zeit zu sein, in der dieser Sänger seine eigene Biografie als Bürde empfunden hat. Vorbei auch die Zeit, in der sich Dylan in einer Mischung aus Prophet und Racheengel anmaßte, über andere zu urteilen und den Ungläubigen den Weg zu weisen.

Dylan scheint die Irrwege hinter sich gelassen haben und angekommen zu sein, wo er immer hinwollte: In den Fußspuren eines alten Sängers namens Woody Guthrie, der seine Rolle als rastloser Erinnerer an ein Liedgut gesehen hatte, das ohne ihn (und heute: ohne Dylan) längst in Vergessenheit geraten wäre.

Dylans neues Album trägt den Titel „Love And Theft“, also „Liebe und Diebstahl“, und es erscheint erlaubt, diesen wörtlich in Bezug auf die Musik, um die es Dylan geht, zu nehmen. Dylan wildert auf „Love And Theft“, seinem 43. Album als Columbia Recording Artist, in dem Gestus und den Liedern längst verstorbener Musiker, die heute weit gehend nur noch von Musikliebhabern gehört werden, die ein fast schon detektivisches Interesse an der von ihnen geliebten Musik aufbringen müssen, um ihrer habhaft zu werden. Die Namen solcher Sänger sind etwa Charlie Patton, Chubby Parker, Frank Hutchison oder Ramblin’ Thomas, Nelson Eddy, Blind Lemon Jefferson, Robert Johnson oder Jeanette MacDonald. Ihre Schellackplatten haben sie in den Zwanziger- und Dreißigerjahren aufgenommen, und ihre Lieder besingen Sklaverei, Plantagenbrände, Rachemorde, verbotene Amouren, den Blues, Gott den Allmächtigen oder Naturkatastrophen, die den Menschen auf sein Menschsein und somit seine Sterblichkeit zurechtstutzen – dem heutigen Hörer erscheinen sie wie Beschwörungen einer mythischen, gefährlichen und romantischen Vergangenheit.

Schon 1994 hatte Dylan zwei in kurzen Abständen nacheinander aufgenommene Alben mit archetypischen Folksongs veröffentlicht, deren Urheber angeblich nicht mehr ermittelbar waren. In diesem Licht erscheint „Love And Theft“ als dritter Teil einer über die Jahre verstreuten Trilogie, wenngleich sich die Spur tatsächlich ohne große Mühe noch viel weiter zurückverfolgen ließe: Die bis heute offiziell unveröffentlichten Dylan/Cash-Sessions von 1969, vor allem aber die Alben „John Wesley Harding“ (1967) und „Nashville Skyline“ (1969) waren Alben, die zwar zur Gänze aus Dylan-Kompositionen bestanden, aber ganz offensichtlich ihre musikalische Inspiration aus dem Genre des Outlaw-Country eines Hank Williams oder dem des frühen Johnny Cash bezogen hatten – ganz zu schweigen von Dylans Anfangstagen, in denen er in seinen frühen Zwanzigern Volkslieder und die Lieder Woody Guthries allein zu Gitarre und Mundharmonika interpretierte.

„Love And Theft“ wäre aber nicht eine solche Sensation, vor allem auch außerhalb der Dylan-Fangemeinde, wenn es eine bloß affirmative Haltung zu dem musikalischen Gedächtnis des Sängers einnehmen würde. „Love And Theft“ ist ein unverziert rock-AND-rollendes Album, leidenschaftlich, unbehauen, fast meint man, sogar eine Punk-Attitüde darin zu entdecken, und es beschränkt sich ganz und gar nicht auf den Diebstahl: Die geliebte Musik war ganz offensichtlich wie eine Muse – nicht weniger als eine unendlich interpretierbare, formbare und erweiterbare Blaupause. Die zwölf neuen Songs sind dennoch sämtlich Dylan-Kompositionen, und sie wurden ausnahmslos von Dylan, seiner brillant aufeinander abgestimmten Tour-Band, sowie dem legendären texanischen Orgelspieler Augie Myers vom Sir Douglas Quintet eingespielt. Dylan selbst hat den neuen Song- und Sound-Korpus in einer knappen Presseerklärung beschrieben als „. . . Variationen auf dem 12-Takt-Schema und auf den Melodien des Blues. Die Musik ist das elektrische Raster, und die Texte sind die Unterstruktur, die das Ganze zusammenhält.“ Technisch präziser kann man die Kompositionen kaum in einer solchen Knappheit beschreiben.

Sich ihnen weiter nähern sehr wohl. In dem Song „Highwater (For Charlie Patton)“ etwa, einer vom Banjospiel Larry Campbells angetriebenen Ballade, beschreibt Dylan eine Flut von Angst einflößenden Ausmaßen. Das Lied beginnt mit den raspelnd gesungenen Worten „Highwater rising, rising night and day / All the gold and silver are being stolen away“, und die Hoffnungslosigkeit ähnelt jenen Weltuntergangsstimmungen, wie sie sich hier und da in der Bibel finden. In den Versen hat Dylan jene Wortgewaltigkeit wiedergefunden, die vor Jahren etliche seiner Songs ausgezeichnet hatte, zuletzt aber nur mehr vereinzelt zu finden gewesen war: „Say you dance with whom they tell you to or you don’t dance at all / It’s tough out there / Highwater everywhere.“ Das sind nur drei Zeilen, aber das Bild ist stark und lässt die große Flut, die knappe Zeit, die zum Flüchten bleibt, die Schicksalsgläubigkeit, aber auch den zähen Überlebenswillen der Menschen jener Tage greifbar werden. Charlie Patton gehörte übrigens zu den Begründern des „Delta-Blues“, und auch wenn die Sprache Dylans biblisch erscheint, so könnte er in „Highwater (For Charlie Patton)“ die große Mississippiflut von 1927 besingen.

Auch das Eröffnungslied des Albums, „Tweedly Dee And Tweedly Dum“, ist ein Song, der sich alter Formen, in diesem Falle amerikanischer Kinderreime, bedient. Das Lied ist eine Uptempo-Shuffle-Nummer, die Band rockt ohne Rücksicht auf verquere Akkorde und nimmt in ihrer Grobgeschliffenheit die Stimmung des gesamten Albums vorweg. Dylan singt: „Well they’re living in a happy home in harmony / Tweedle Dum and Tweedly Dee“, nur um Verse später den Spieß umzudrehen und ebenso rücksichtslos zu reimen: „I’ve had too much of your company / Said Tweedly Dum to Tweedly Dee.“

Gemein haben Songs wie die genannten, aber auch getragene Songs wie „Po’ Boy“, das auf der in Allgemeinbesitz übergegangenen Melodie des „Cocaine Blues“ basiert, dass Bob Dylan sich der Sprache, der Produktionsweise und der Kompositionstechnik vergangener Zeiten bedient: Aufgenommen wurde „Love And Theft“ in einem Zeitraum von zwei Wochen im Frühjahr dieses Jahres während einer Tourpause in New York – ein Song pro Tag, wie vor siebzig Jahren, als die Blues- und Countrymusiker nicht selten einen Tag pro Schellack-Single rechneten.

Der Vorwurf, Dylan besäße eine rückwärts gewandte Sicht der Dinge, liegt also nahe und trifft doch nicht zu, dazu ist das Ergebnis zu reich und vielfältig und vor allem zu frisch und energiegeladen: „Love And Theft“ ist eine Dekadencollage, in welcher Dylan vom Rockabilly-Style über den Barroom-Jazz bis zurück zum Blues der Dreißiger und Vierziger jagt. Es ist allgemein bekannt, dass Dylan den Tod von Elvis Presley letzlich als das Ende jener Ära ansieht, in der die amerikanische Musik noch ein (durchaus auch selbstreferenzielles) Traditionsbewusstsein besaß. Als ob Dylan aber vorbeugen wollte, nicht als konservativer Wahrer dazustehen, sondern als Erneuerer, heißt es in dem Boogie „Summer Days“ unvermittelt viel sagend: „She says, ‚You can’t repeat the past‘, I say ‚You can’t? What do you mean you can’t? Of course I can.‘ “

Nur wenige Monate nach der Verleihung eines Oscars und eines Golden Globes an Bob Dylan für seinen Soundtrackbeitrag „Things Have Changed“ für den Film „Wonderboys“ (der nicht auf dem neuen Album enthalten ist) und der einem Medien-Overkill gleichenden Berichterstattung zu seinem sechzigstem Geburtstag erscheint „Love And Theft“ zeitnah – gemessen an der verstrichenen Zeit seit seinem letzten Studioalbum.

Überraschend ist eigentlich nur, dass in vergleichbaren Situationen in den letzten zwei Jahrzehnten, in denen Dylan seinen vierzigsten bzw. fünfzigsten Geburtstag feierte und mit Auszeichnungen für sein Lebenswerk, Grammys, Ehrendoktorwürden, Empfehlungen für den Literaturnobelpreis etc. bedacht wurde, er des Öfteren mediokre Werke folgen ließ, schlecht gelaunte Konzerte gab und die Welt im Allgemeinen und das Musikbusiness im Speziellen zu hassen schien. Das alles trifft auf „Love And Theft“ und Bob Dylan nicht mehr zu. Bob Dylan hat sogar in einem lustigen TV-Spot zur Bewerbung seines neuen Albums mitgespielt, der auf www.bobdylan.com im Internet einzusehen ist.

Da es wirklich rundum gute neue Alben von Dylan lange Zeit schlichtweg nicht gab und seit vier Jahren urplötzlich alles anders ist, sei ein kleiner Gedankenschlenker erlaubt: In fast jedem Artikel zu Dylans letztem Album „Time Out Of Mind“ überboten sich die Rockkritiker mit ihrem Blick zurück auf das letzte große Album dieses großen Musikers.

Ich glaube: „Love And Theft“ ist Bob Dylans bestes Album seit „Pat Garrett and Billy The Kid“. Bob Dylan selbst sagt in dem Song „Po’ Boy“, als redete er von sich: „Man said, ‚Freddie.‘ I said, ‚Freddie who?‘ He said, ‚Freddie or not, here I come.‘ “ Das sagt in etwa das Gleiche aus, nur auf altamerikanisch.

Bob Dylan: „Love And Theft“ (Sony / Columbia); zeitgleich erscheint die Biographie: Woody Guthrie, „Dieses Land ist mein Land“. Edition Nautilus, 444 Seiten, 49, 80 DM