„Moby Dick“ und der giftige Rhein

1966 schwimmt „Der Weiße Wal“ von Rotterdam nach Bonn und entwickelt sich zum Symbol gegen die Umweltzerstörung. Das Tier blamiert den Zoodirektor von Duisburg, dessen Name zum Programm wird: Dr. Gewalt (20.45 Uhr, Arte)

von DIETMAR BARTZ

Als Neunjähriger habe ich unseren Duisburger Tierpark geliebt. Die Giraffen und Elefanten fand ich toll, auch das Delfinarium. „Das wird Europas größtes“, sagte mein Vater stolz. Es war noch gar nicht richtig fertig, als ich dort die erste Delfin-Dressur sah. Doch dann sind wir nie mehr zur Flipper-Show gegangen. In den Zoo schon, auch zu den Robben und Seelöwen, aber nicht mehr ins Delfinarium. Andere in meiner Klasse auch nicht. Verstanden haben wir das nicht. Unsere Eltern sagten nur, dass es an Zoodirektor Doktor Gewalt lag. Das hat uns Kinder noch mehr verstört: Warum konnte ein Zoodirektor Doktor Gewalt heißen?

Wie das Delfinarium zum bösen Ort wird, rekonstruiert Filmemacher Stephan Koestler in seiner Dokumentation „Der weiße Wal“. Im Mai 1966 taucht im Rhein eine verirrte Beluga auf, schnell auf den Namen „Moby Dick“ getauft. Im Ruhrgebiet herrscht das Wirtschaftswunder: Ludwig Erhard besucht die Montan-, nämlich Stahl-, Kohle- und Dreckstadt Duisburg. Die Luft rußt, den Rhein vergiften Phosphate, Säuren, Fäkalien. In dieser Brühe schwimmt das schneeweiße, pummelige Tier stromaufwärts und löst einen gewaltigen Presserummel aus.

Am 18. Mai erreicht Moby Dick Duisburg – und Dr. Gewalt, der junge Direktor des Tierparks, gerade erst zwei Monate im Amt, will den Weißwal für sein viel zu kleines Delfinarium haben. Von gewaltigem Presserummel begleitet, scheitern die Fangversuche des Ehrgeizlings in einem Duisburger Hafenbecken: Moby taucht unter Tennisnetzen weg und entkommt einem Schuss aus der Narkosepistole – ein Treffer hätte das Tier getötet, weil sein Atemsystem versagt hätte.

Das lässt die Begeisterung der vielen Zuschauer für die Jagd kippen. Moby, die gequälte Kreatur, wird zum Sympathieträger und Dr. Gewalt zum Tierfeind – erst recht, als vor laufender Kamera ein Scharfschütze Moby den Haken für eine kleine orangefarbene Markierungsboje unter die Haut schießt. Tierschützer werfen Apfelsinen in den Rhein – ihre Begründung: Moby braucht Vitamine. Die Boje ist zwischen den Früchten nicht mehr zu sehen. „Verhaften Sie Dr. Gewalt!“, fordert die Bild-Zeitung, die täglich von Bord eines gecharterten Zeppelins berichtet.

Das weiße Tier, inzwischen abgemagert und dunkel gefleckt, wird zum Symbol – gegen die Umweltverschmutzung, die geschundene Natur, den Machbarkeitswahn der Politiker. Es schwimmt tatsächlich bis vor das Bundeshaus nach Bonn, wo alles am Rheinufer zusammenläuft und eine Nato- und die Bundespressekonferenz unterbrochen werden. „Erstmals in der Geschichte ist die politische Agenda wegen eines Tieres geändert worden“, berichtet eine Nachrichtenagentur. Direktor Gewalt muss aufgeben, tausende triumphierende Rheinländer begleiten Mobys Weg stromabwärts, werfen als Futter Stullen und Rollmöpse von den Rheinbrücken, und nach vier Wochen kehrt Moby Dick in die Nordsee zurück.

Glaubwürdig stellt Koestler Moby Dick als Auslöser einer ersten vom Presserummel angefachten Natur- und Tierschutzbewegung dar. Die Mittel des Regisseurs haben auf dem Filmfestival in Locarno allerdings Heiterkeit ausgelöst. Die Johannespassion untermalt Mobys Leidensweg. Archivaufnahmen irgendwelcher Belugas illustrieren Mobys Familiengeschichte. Dazu dramatisiert eine Stimme (Joachim Król) aus dem Off: „Niemand ahnt, welche außergewöhnliche Odyssee dem jungen Wal bevorsteht“, oder fragt: „Haben Wale Heimweh?“

Doch wegen des reichhaltigen Materials, das Koestler zusammengetragen hat, sehen wir ihm solche Greenpeacehaftigkeiten gerne nach. Schließlich wissen wir jetzt, warum wir nie mehr in Doktor Gewalts Delfinarium durften und in sein später gebautes Walarium auch nicht. Der Mann ist aber auch unbelehrbar. Er fing sich später einen eigenen Weißwal, Ferdinand. Und der, obwohl eigentlich Herdentier, schwimmt bis heute ohne Artgenossen in seinem Duisburger Becken herum.

Arte zeigt „Der weiße Wal“ zum Auftakt seines Themenabends „Ganz in Weiß“. Den Film ergänzen zwei weitere Beiträge: über Weiß als Schutzfarbe vor den bösen Mächten und über Dreck, Waschmittel und die Werbung dafür. Und damit die christliche Reinheitssymbolik nicht zu kurz kommt, gibt es zwischendrin auch noch eine Brautkleid-Doku.