zwischen den rillen
: Dirk von Lowtzow und Thies Mynther lassen rasseln

Der verhuschte Kern des Realen

Geisterbahnen sind was für infantile Verliebte und wer sich noch beim „Gespenst von Canterville“ begruseln kann, muss ein reines Herz haben. Gespenster erleben derzeit höchstens noch Inflation in Kinderbüchern: Es gibt das „Kleine Gespenst“ auf Burg Eulenstein, ein „Gespenst Gundula“ und eins „im Gurkenglas“. Und in Hollywoodfilmen sind Gespenster durchweg liebenswerte Wesen mit Namen wie Caspar oder Sam, die auf verlorenem Posten, Brillenträger oder unsportlich sind und denen es immer an Durchsetzungsvermögen mangelt. Wer heute also noch vom Anderen, vom harten Kern des Realen erzählen will, das die verschiedenen Symbolisierungsversuche nicht zu domestizieren vermag, der greift nicht nach Gespenstern, sondern nach polymorphen, eitrigen Monstern und klebrigen Aliens aus der Horror- oder Science-Fiction-Welt.

Nicht so Thies Mynther, sonst bei Stella und Superpunk, und Dirk von Lowtzow, mehr als vertraut als Sänger deutschsprachiger Texte und Gitarrist bei Tocotronic, die gerade ihr erstes Album als Duo herausgebracht haben. „Phantom/Ghost“ ist eine fröhliche Beschwörung freundlicher Geister mit elektronischer Musik und englischen Texten, eine Aufforderung zum Knochenrasseln, zum beschwingten Totentanz, eine Befreiung der Gespenster aus ihrer Niedlichkeit, aber nicht zum Preis der Angst. Sie ist gleichermaßen groovig und schrullig, staubig, altmodisch verträumt und trotzdem, oh Wunder, so ziemlich das Widerständigste, was es derzeit im deutschen Pop jenseits von HipHop und ein paar letzten Aufrechten gibt.

Eine Gitarre spielt fröhlich mit zum Klischee geronnenen Postrock-Melodien. Ein Sample von Boney M.’s „Calimba de Luna“, so verzerrt wie das Westernsaloonklavier im Fernsehen bei Nachbars, rührt peinlich schön an. Heiter winkt das beschworene Achtziger-Revival. Ein Stück klingt wie Easy Listening, so leicht wie Stereolab, Henri Mancini oder Mister Rossi on Speed. Wie durch einen Filter hallt es aber gleichzeitig irgendwo weit hinten gewaltig. Elektronisches Meeresrauschen könnte auch ein Lufthauch sein, der um einen Widergänger weht. Ketten rasseln, eine schwere Tür fällt langsam ins Schloß. Sissy Spacek aus Brian de Palmas Horrorfilm „Carrie“ sagt etwas und die wabernden Geräusche scheinen wie verschönerte Sequenzen von Györgi Ligetis unheimlich eintöniger Musik zu Stanley Kubricks Film „The Shining“. Eine witzig kakophonische Collage aus Geschreisamples ist dem Horrorregisseur Daro Argento gewidmet.

Uralte Casios oder Moogs schnalzen so exaltiert gefährlich wie in einem guten, alten Gothic-Heuler von Suicide Commando, Tuxedomoon oder Liaisons Dangereuses vor fünfzehn, zwanzig Jahren. Man möchte instinktiv vor- und rückwärts schaukeln und die imaginäre Stirnlocke tief Richtung Tanzboden neigen. Dazu singt Dirk von Lowtzow auf seine sanfte, traurige Art kryptische Lieder von zwei Liebenden, die sich außerirdisch fühlen, und von Alcatraz, der inzwischen stillgelegten Gefängnisinsel, wo jeder Gedanke seine Melodie hat, einem spooky Ort, der seine Geschichte nicht mehr loswird, wo die Toten umgehen und für Aufruhr im Herzen sorgen. „Hei“, heizt von Lowtzow ein, und fordert zum Erinnern auf. Das Lied geht an „the gossip of the famous, the blessed and the respected“ und es geht an die Utopie der Tanzfläche: „the dancefloor never was a prison cell“, singt er.

Man fühlt sich unterhalten, wie man sich in den Achtzigern nie unterhalten fühlte und erinnert kurz den Satz Prousts von der Vergangenheit, die in einem Glanz erscheint, der so nie erlebt wurde. Man stellt sich vor, was wäre, wenn jetzt plötzlich jeder den Anspruch von Pop, gegenwärtig zu sein, so sehr vom Kopf auf die Füße stellte. Vor allem aber denkt man an Walter Benjamin, der über das Vermächtnis der Vergangenheit schrieb, das vorbeihuscht, aufblitzt. Man denkt an seinen melancholischen Messianismus. An seine Hoffnung auf revolutionäre Erlösung mit dem Erbe der Toten, der Vergessenen, der Verdrängten im Rücken – und das in einer Zeit, in dem ihm mit Blick auf Nazideutschland alles verloren erschienen sein musste.

Es sind also doch nicht die dressierten, harmlosen Geister aus dem Gurkenglas, die Phantom/Ghost ruft. Es sind Geister, die uns Mut machen, etwas weiterzustricken, was sie begonnen haben. Vielleicht sind es die Lieder Tocotronics, die einmal davon handelten, wie ihnen unsere Leidenschaft rätselhaft ist. Oder, noch früher, Rio Reisers Aufforderung, dass wir hier raus müssen. „Das ist die Hölle. Wir leben im Zuchthaus.“ Deren Gespenster einem zwar unheimlich sind, aber nicht eklig. Mit denen es sich super tanzen lässt. Bis sich die Balken biegen.

SUSANNE MESSMER

Phantom/Ghost: Phantom/Ghost (Ladomat 2000/Zomba)