Juniorwahl statt Revolution

Ein Berliner Kulturverein hat es gegen alle Widerstände geschafft, ein Vorzeigeprojekt der politischen Bildung durchzusetzen: Wahlen für Schüler. 2002 sollen 15-Jährige die Bundestagswahl simulieren

von CHRISTIAN FÜLLER

Jetzt grübeln sie wieder. Susina, Gerald und Sascha zerbrechen sich den Kopf darüber, wie sie ihre nächste Polit-Aktion finanzieren sollen. Im März veranstalteten die Studenten parallel zu den Landtagswahlen in Baden-Württemberg eine so genannte Juniorwahl, die erste ihrer Art in Deutschland. „Es ist wahnsinnig spannend, Schüler richtig wählen zu lassen – aber genauso aufwendig und teuer“, stöhnt Gerald Wolff nun. Schon im Oktober sollen sie mit ihrem viel beachteten „Jugend wählt“-Projekt die Berliner Abgeordnetenhauswahl veredeln. Werden wir das organisatorisch hinkriegen?, fragen sie sich jetzt. Wo soll das ganze Geld dafür herkommen?

Wer mit den Aktivisten des Berliner Kulturvereins Kumulus abends in einer Kneipe über künftigen Aktionen brütet, braucht starke Nerven. Es geht, seit Kumulus im Jahr 1998 mit einer spinnerten Politikidee an die Öffentlichkeit ging, fast immer um tausende, inzwischen um hunderttausende von Mark; es geht um ignorante Ministerien und kalt lächelnde Politiker; es geht um das Scheitern von Jugendlichen an der Politik. Aber Kumulus hat dann doch immer Erfolg, getreu seinem Namen: Meteorologisch steht der Kumulus für schönes Wetter, als Verein für eine Erfolgsstory – wenn auch eine komplizierte.

Kumulus startete 1998 mit einem Sit-in. In durchsichtigen, aufblasbaren Sesseln fläzten sich die jungen Leute am Postdamer Platz. Nicht quatschen, sondern machen, lautete die Botschaft damals. Dann baute Kumulus eine Mauer aus Eis vor dem Brandenburger Tor auf. Um zu zeigen, dass es mehr Wärme zwischen Ossis und Wessis brauche. Nach diesen luftigen Nummern von Aktionskunst sahen die Kumuli den Wahlexperten Jürgen Falter im Fernsehen – und schon spürten sie ihre Berufung: die Ödnis des Wählens in der Bundesrepublik zu verändern. Kinder an die Macht – wenigstens beim Kreuzchenmachen. Wer gedacht hatte, der Aufwand einer kleinen Landtagswahl für Jugendliche würde den Horizont von Kumulus übersteigen, sah sich getäuscht.

Gerald Wolff und seine rund 30 Vereinsfreunde holten sich zwar zunächst eine Abfuhr nach der anderen. Die KultusministerInnen von Berlin, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen hatten keine rechte Lust, das Wahlprojekt in ihre Schulen zu integrieren. Aber dieses Jahr trommelte der hartnäckige Kulturverein tausende von Jugendlichen an die Wahlurnen. Bei der Wahl in Baden-Württemberg durften die Kids von 16 Schulen mitwählen.

Diese erste Juniorwahl löste ein fulminantes Echo aus. Die lokale Presse überschlug sich. Renommierte Politologen interessierten sich plötzlich für das Projekt. Ehemalige Bundespräsidenten beklatschen es. Sogar ihre Heimatstadt meldete Interesse an. Wenn am 21. Oktober die Frontstädter ihre Kreuzchen machen, dürfen 14 Schulen mitwählen – dank Kumulus. Der Kulturverein ist zu Hause angekommen. Der diskrete Charme von jungbürgerlichem Dilettantismus ist einer gehörigen didaktischen Professionalität gewichen. „Wir schaffen erst mal das Basiswissen, wie Demokratie eigentlich funktioniert“, erläutert Sascha Müller. Dazu gehören ein eigenes kleines Curriculum zu Wahlen, praktische Übungen, Zeitreisen durch die Geschichte des Wählens und, natürlich, eine elektronische Wahlkabine.

Die 2.000 teilnehmenden Kids im Ländle und in Baden waren begeistert. Sie lernten den Sinn von Wahlen überhaupt erst verstehen – zum Beispiel, weil sie in Planspielen am eigenen Leib erfuhren, was es heißt, ohne Stimmrecht zu sein. Und die Sozialkundelehrer waren froh, dass sie Theorie durch Teilnahme ersetzen konnten. In der Sprache des Begleitforschers, des Politikprofessors Oskar W. Gabriel, heißt das: Die Lehrer hatten endlich ein Projekt für „handlungsorientierten Unterricht“. Laut der Studie von Gabriel, die Ende dieser Woche erscheint, haben aber auch die Schüler profitiert: Ihr vor dem Projekt „erschütternd niedriges Wissen über Wahlverfahren“ habe sich ganz erheblich verbessert (siehe Kasten).

Der Erfolg überraschte auch Susina, Gerald, Sascha und ihre Mitstreiter. Zu viele Absagen hatten sie seit 1998 wegstecken müssen. Dass sie so lange durchgehalten haben, ist umso erstaunlicher, als die Kumulus-Jugendlichen keine übliche Berliner Politisierungserfahrung haben. „Häuser besetzen“, sagt Susina beinahe spöttisch, „das machen die anderen.“ Der 25-jährigen Politologin gehen alle graswurzeligen oder außerparlamentarischen Anwandlungen ab. Sie versucht Jugendliche fürs Wählen zu begeistern, den demokratischen Grundakt schlechthin. An dem Institut, wo Susina studierte, hätte man sie dafür ausgelacht. Echte politische Partizipation, so lernte man da, entsteht über die Sorge um politische Inhalte wie Frieden, Natur oder Energiepolitik – aber nicht über die Teilnahme an entfremdeten Wahlen.

Susina aber lächelt still in sich hinein. Der Kitt von Kumulus ist nicht revolutionäres Pathos, sondern staatsbürgerliches Engagement. Mögen andere in Genua gegen die Globalisierung und alle möglichen Probleme ankämpfen, sie findet es faszinierend, „Wahlen locker und spannend aufzubereiten“. Mit ihrer Kumulus-Clique kann sie dabei auf echte Erfolge verweisen.

Kumulus korrespondiert inzwischen mit „Kidsvoting“, dem großen Bruder der Juniorwahl über dem Großen Teich. In den USA misst man in den beteiligten Bezirken eine um 3 bis 5 Prozent höhere Wahlbeteiligung – unter den Erwachsenen. Die voting Kids reden so viel mit ihren Eltern übers Wählen, dass die gar nicht anders können, als sich auf den Weg zur Urne zu machen.

Der Erfolg hindert die Kumuli aber eben nicht daran, in Grübelei über ihre Zukunft zu verfallen. Jetzt, da sie kurz davor stehen, zusammen mit der Bundeszentrale für politische Bildung 15- bis 17-jährigen Schülern die Teilnahme an der Bundestagswahl 2002 zu ermöglichen, wollen sie ihr Kind „Juniorwahl“ abgeben. Eine Stiftung müsse her, da sind sich Susina, Gerald und Sascha verdächtig einig. Dass eine Stiftung ihren Enthusiasmus gar nicht ersetzen kann, lassen sie nicht gelten. – Aber wer weiß, vielleicht schaffen sie das ja auch noch.