Natural born Kapitalismuskritiker

Das Politische wollen – aber wie? Das fragten sich die Schriftsteller Norbert Niemann und Georg M. Oswald. In der neuen Ausgabe der Literaturzeitschrift „Akzente“ suchen sie und andere Autoren der mittleren Generation nach Antworten

O Dichter, siehst du wie bereit wir sind, selbstkritisch und nachdenklich zu sein?Seht her, auch wir, die wir weiterhin am Begriff der Politik festhalten, sind viele!

von DIRK KNIPPHALS

Was für ein Unterschied ein Wort macht, sieben einfache Buchstaben. „Politik“ steht schlicht, aber auch trotzig unterstrichen auf dem Titelblatt der aktuellen Ausgabe der Literaturzeitschrift Akzente – und schon liegt ein Thema in der Luft. Nicht dass man diese an einen simplifizierenden Manifestatismus gemahnende Setzung für den besten Werbegag aller Zeiten halten muss. Aber wenn an einem Ort, an dem man entlegene Lyrik erwartet, plötzlich SchriftstellerInnen der jüngeren bis mittleren Generation den Begriff der Politik emphatisch betonen, dann möchte zumindest unsereiner doch wissen, was dahinter steckt.

Zwei Dinge verkomplizieren die Sache allerdings. Zum einen erschöpft sich das Manifesthafte in einem kurzen Editorial. Darin heißt es: Es „soll der Versuch unternommen werden, Perspektiven auf die politischen Problem- und Konfliktzonen in der gegenwärtigen Gesellschaft mosaikartig zusammenzustellen und nach dem heute noch möglichen Verhältnis von Politik und Literatur zu fragen“. Das ist nicht nur vorsichtig formuliert, damit hört darüber hinaus die einordnende Reflexion auch schon auf. Dezent sein im Grundsätzlichen, bloß kein Gesülze, hin zu den Gegenständen, das drückt das knappe, noch nicht mal halbseitige Editorial aus. Befänden wir uns noch näher dran am Jahr 68, wir hätten hier wohl ein Thesenpapier über Sinn und Zweck des Unternehmens vorgefunden; zehn Seiten, mindestens. Wer beim aktuellen Heft aber nach dem Warum fragt, der ist darauf verwiesen, die Impulse und Intentionen aus den einzelnen Beiträgen herauszulesen. Oder aber er muss im Internet unter der Adresse www.forum-der-13.de nachschauen.

Achtung, Literaturstudenten, unter dieser Adresse findet sich Material für mindestens eine Seminararbeit. Denn, und das bedingt zum anderen die Komplikation, die Akzente-Ausgabe liegt zumindest im übertragenen Sinn in doppelter Gestalt vor. Einmal als gewöhnliches Heft, 95 Seiten plus zehn Seiten Anzeigen dick, 13,40 Mark billig, herausgegeben von den Schriftstellern Norbert Niemann und Georg M. Oswald. Und zweitens als geronnenes, Papier gewordenes Ergebnis eines Reflexionsprozesses, der seit Herbst vergangenen Jahres in eben dem angegebenen Forum im Internet stattfand und immer noch stattfindet. Inzwischen kann man unter der Adresse, einer Art Chatroom für AutorInnen, die Kommentare der beteiligten Schriftsteller zu den ersten Berichten über das Heft nachlesen.

Wer die Protokolle aus dem Netz hinzunimmt, kann Schritt für Schritt der Entstehung des Heftes beiwohnen. Als Stichtag ist dabei der 6. November 2000 anzusetzen. Norbert Niemann fragte sich an diesem Termin: „Das Politische wollen, aber wie?“ Am Abend zuvor hatte er Wolf Biermann bei einer Sabine-Christiansen-Sendung über die Leitkultur gesehen und festgestellt: So jedenfalls geht’s nicht. Niemann: „Biermann zog alle Register der pathetischen Rede, eine fast betretene Nachdenklichkeit herrschte, oder eigentlich war es mehr so ein Signal wie: ,O Dichter, siehst du wie bereit wir sind, selbstkritisch und nachdenklich zu sein?‘. Aber was er sagte, war so mau [. . .] und zog sich so in die Länge, dass Sabinchen [. . .] einfach to something totally different überging.“

Der Auftritt muss bei Niemann zweierlei ausgelöst haben: einen geradezu epiphanischen Ekel vor den ausgetretenen Betroffenheitspfaden, auf denen die einschlägigen Matadore zwischen den Feldern Politik und Kultur hin und her trampeln – o Dichter. Und den Impuls: Etwas Besseres als das kriegen wir auf alle Fälle zustande.

Was folgte, waren Diskussionen im Internet. Eine Zeit lang wurde eine Podiumsveranstaltung rund um das Thema Rechtsradikalismus erwogen, was Georg M. Oswald, der zweite Herausgeber, damals aber blöde fand: „Schriftstellerpodium gegen Rechts ist Käse.“ Das mailte Oswald am 7. November um 12.58 Uhr. Kurz darauf muss ihn ein Blitz durchfahren haben. Zwei Minuten später schickte er eine zweite Mail hinterher: „Lasst uns eine Anthologie machen [. . .] DAS wäre was.“ So kam man von der Frage, wie das Politische für Schriftsteller zu wollen sei, auf die ziemlich nahe liegende Antwort, politische Texte zu verfassen – Essays, Prosa, Lyrik, was auch immer – und sie zu einem Band zusammenzustellen. Die vorliegende Akzente-Ausgabe ist das Ergebnis – mit allen Verschiebungen, die sich von der Idee bis zur Endredaktion immer ergeben.

Aber natürlich ist die Frage nach dem Wie im Verhältnis von Literatur und Politik mit der Existenz des Heftes allein nicht beantwortet. Da müssen die enthaltenen Texte schon genauere Auskunft geben. Wer sie allerdings vor dem Hintergrund der Wie-Frage liest, hat mehr davon. Dann geht es nicht allein darum, aus berufenem Munde intelligente Gedanken zur politischen Situation zu erfahren (die der Band durchaus enthält). Sondern darum, dass der Band an konkreten Beispielen Modelle durchspielt, wie sich Schriftsteller heute als politisch begreifen können und wollen. Norbert Niemann und Georg M. Oswald hätten, so gelesen, ihre Überlegungen aus dem Internet zu einem Experiment arrangiert. Und das Spannende an der Lektüre ist dann gerade, dass man Text für Text überprüfen kann, wie die einzelnen Modelle bei einem zünden.

Sehr wenig zünden die Modelle von Birgit Vanderbeke und Ingo Schramm. Birgit Vanderbeke kommt in ihrem Beitrag noch einmal auf das Phänomen „Big Brother“ zu sprechen; mit viel rhetorischem Tamtam weist sie nach, dass Orwell zwar den Namensgeber, eigentlich aber Aldous Huxleys Zukunftsvision von der „Schönen neuen Welt“ den Hintergrund der Fernsehshow darstelle, was, soweit lässt sich der Text systematisieren, etwas mit dem dort vertretenen Ideal des debilen, aber happy seienden Bürgers zu tun habe – Zlatko mit seinen mangelnden Shakespeare-Kenntnissen was here. Offenbar übersetzt Birgit Vanderbeke den Impuls, politisch sein zu wollen, in eine – wenn auch verspätete – Teilhabe am Erregungssystem Feuilleton. Nicht wirklich originell. Wenn etwas ausdiskutiert worden war, dann „Big Brother“. So richtig befriedigt es da nicht, nun also auch noch zu erfahren, dass Birgit Vanderbeke über ein ästhetisches Angewidertsein, das sich ironisch tarnt, kaum hinauskommt.

Während Birgit Vanderbeke ein Schlaglicht auf ein Phänomen der Massenkultur wirft, arbeitet sich Ingo Schramm an der Konfliktzone Einkaufszentrum ab. Anlässlich einer Lesung in den Berliner Potsdamer-Platz-Arkaden entdeckt er, dass es an solchen Orten nicht um Kunst oder Poesie, sondern um Konsum geht. Daraus zieht er keineswegs die Folgerung, dass der Platz für eine Lesung schlecht gewählt war. Sondern er schließt, dass etwas im Kapitalismus schiefläuft: „Als Lohn wird uns das totale Konsumparadies auf die Fernsehschirme projiziert, während an den Zehen schon längst das Preisschild baumelt.“

Ingo Schramm bespielt das Modell des Künstlers als natural born Kapitalismuskritiker. Auch wer wie unsereiner dies Modell für ziemlich abgegriffen hält, muss allerdings Schramm zumindest für die Konsequenz bewundern, mit der er den romantischen Antagonismus von Konsum und Glück auf die Spitze treibt: Rettung gibt es ihm zufolge allein für „die Liebenden“. Immerhin. Wie man allerdings mit so wenig Sinn für die Massenkultur als „Partisan im kollektiven Gedächtnis wildern“ will – so das politische Modell, das der Schriftsteller Leander Scholz zum Schluss einer Verteidungsschrift seines durchgefallenen Romans „Rosenfest“ ausbreitet –, bleibt fragwürdig.

Überhaupt ist nach Durchsicht des Heftes festzustellen, dass das überzeugendste Modell, politisch zu werden, in einem eher schlichten Rezept besteht: Sich nicht allzu sehr von den großen Erzählungen auf dem Feld zwischen Ästhetik und Politik irritieren zu lassen und daneben sorgfältig seiner intellektuellen Arbeit nachzugehen nämlich.

Burkhard Spinnen tut dies, indem er ausgehend von BSE- und anderen Krisen eine Theorie des Skandals ausarbeitet (gekürzt vorabgedruckt in der taz vom 15. 6.). Dagmar Leupold denkt mäandernd über die gemeinsame etymologische Wurzel der Begriffe tauschen und täuschen nach. Thomas Meinecke legt einen Ausschnitt seines im Herbst erscheinenden neuen Romans „Hellblau“ vor. Immer wenn die Beiträge so geschrieben sind, dass sie wirken, als seien sie nicht extra für dies Heft geschrieben worden, wirken sie überzeugend – auch und gerade als Texte, die sich mit den politischen Zuständen beschäftigen.

Anlässlich des prangenden Wortes Politik auf dem Cover ist das natürlich ein zutiefst ironischer Befund. Immerhin ist damit das Minimalziel erreicht, über das sich Niemann und Oswald im Internetforum einig waren: dass einige der jüngeren Schriftsteller „in der Lage sind, eine Reihe klarer, seriöser, gut geschriebener, inhaltlich präziser und kritisch treffsicherer Texte zustande zu bringen, in denen es um den Zustand dieser Gesellschaft geht“. Um dies zu beweisen, hätte es des Heftes allerdings nicht bedurft. Das konnte man schon vorher wissen.

Möglicherweise ging es bei der Konzeption des Heftes auch im Kern um etwas anderes: um Selbstvergewisserung, dass man mit dem Impuls, das Politische zu wollen, nicht allein dasteht. Alle Welt hat zuletzt schließlich eher von der so genannten Popliteratur geredet. Seht her, auch wir, die wir weiterhin am Begriff der Politik festhalten, sind viele! Diese Erkenntnis sollte das Heft, so lässt sich annehmen, der literarischen Öffentlichkeit entgegenhalten.

Es gibt schon Stimmen, die von einer Trendwende in der Literatur sprechen. Aber das wäre nur wieder ein neues Missverständnis. Wovon das Akzente-Heft tatsächlich zeugt, das ist eine Ausdifferenzierung in unserem literarischen Feld. Dies deutlich zu machen, dazu taugt der Begriff der Politik immerhin.