Debatte 150 Jahre SPD: Bildung als Bedrohung

Die Sozialdemokraten versprechen Aufstieg durch Wissen. Aber das kann in einer gespaltenen Gesellschaft nicht für alle zum Ziel führen.

Büffeln bringt nichts: Aufstieg durch Bildung bleibt oft ein leeres Versprechen. Bild: dpa

Bildung entscheidet. So lautet das sozialdemokratische Axiom. Und da Bildung die Weichen für das ganze Leben stellt, muss jeder unabhängig vom viel zitierten Geldbeutel der Väter über die gleichen Voraussetzungen und Zugänge zur Bildung verfügen. Das ist das sozialdemokratische Credo.

Darin liegt die gesellschaftspolitische Programmatik der SPD für das 21. Jahrhundert begründet. Ohne Zweifel besitzt dieses Postulat eine hohe Plausibilität. In der Chancengesellschaft, so heißt es jedenfalls, zähle allein die Leistung, die der Einzelne erbringt, nicht die Herkunft, weder Rang noch Titel.

Natürlich birgt die projektierte „Chancengesellschaft“ auch kritisches Potenzial gegen die aktuelle Gestalt des Kapitalismus. Erkennbar wurde bereits in den Jahren der „New Economy“ und des entgrenzten Finanzkapitalismus, dass gerade die großbürgerlichen Leitfiguren mehr und mehr vom Leistungsprinzip abrückten.

Den Ausschlag gab der Geldbetrag, ganz gleich, ob als Resultat von Fleiß oder als Folge hasardeurhafter Spekulationen. Darauf hat insbesondere Sighard Neckel hingewiesen: „Doch ist aller Rhetorik zum Trotz das Leistungsprinzip in Kreisen der DAX-Ökonomie in Wirklichkeit nicht mehr gut gelitten. Wer sich bisweilen auf Seminaren und Tagungen wirtschaftsnaher Verbände aufhält, kann dort erleben, dass Begriffe wie ,Leistungsgerechtigkeit‘ ausdrücklich abgelöst werden. Wer ,Leistung‘ sagt, so heißt es, wolle nur Forderungen stellen.“

Gerecht gescheitert

Und in der Tat: Für die neue gesellschaftliche Mitte war Leistung der entscheidende Hebel, um soziale Ansprüche für Aufstiegskarrieren zu formulieren. Doch eine antibourgeoise Stoßrichtung nahm das nicht an. Die letzten Jahre haben vielmehr Schattenseiten der Chancen- und Leistungsutopie deutlich werden lassen. Der Bildungs- und Anstrengungsappell in einer ansonsten gleichbleibenden Gesellschaft mit riesigen Einkommensdifferenzen und gravierenden sozialen Unterschieden führte zu einem ziemlich gnadenlos ausgetragenen Ringkampf um weiterhin privilegiert angesiedelte Positionen.

Wer in dieser individualisierten Schlacht durch rigide Chancennutzung nicht mithielt, hatte erst recht verloren. Denn fortan galt er als „gerecht“ gescheitert, weil er im „fairen Leistungswettbewerb“ versagt hatte, also selbst für sein negatives Schicksal verantwortlich gemacht werden konnte. Das chancengesellschaftliche Versprechen nutzte so als ideologische Parfümierung zur Abgrenzung zuletzt aufgestiegener Schichten gegen Ansprüche von unten.

Die moderne Chancengesellschaft, die den Kontext von Solidaritätsnormen verlässt, konnte auf diese Weise zu einer ziemlich kalten und rohen Angelegenheit werden. Bezeichnend ist sicher, dass sich die soziale Mitte bildungs- und schulpolitisch keineswegs für das Modell erweiterter Chancen auch für Kinder des „sozialen Unten“ ins Zeug legt. Dabei zählten viele Mittezugehörige selbst zu Gewinnern der ersten Bildungsreform in den 1960er/70er Jahren.

Doch gerade weil sie den Aufstieg von unten in die Mitte geschafft haben, besitzen sie nun – ganz wie schon in früheren Jahrzehnten die etablierten Mittel- und Oberschichten – kein Interesse an weiteren Emanzipationsschüben von unten, da das für sie zusätzliche Konkurrenz und damit auch die Entwertung der eigenen, mühselig erworbenen Bildungsabschlüsse und Statuspositionen bedeutet.

Abwertungsspirale nach unten

Generell gilt: In der gegenwärtigen Druck- wie Konkurrenzsituation grenzen sich die verschiedenen Elternmilieus schroff voneinander ab, verhindern, dass ihre Kinder mit dem Nachwuchs der jeweils unter ihnen verorteten Schichten in Kontakt geraten. Das klassische Bildungsbürgertum achtet seit einigen Jahren darauf, dass ihre Sprösslinge die Freizeit nicht mit den „Parvenüs“ aus dem Mittelstand verbringen.

Und die kleinbürgerliche Mitte unterbindet entschlossen Begegnungen mit Familien aus der „Underclass“, da sie dort kulturelle Verwahrlosung, haltlosen Konsumismus, unheilstiftende Disziplinlosigkeiten wittern. Man mag das eine Abwertungsspirale nach unten nennen.

Ähnliche Eindrücke vermittelt die unlängst in Frankreich intensiv geführte Debatte über die classes moyennes. Für diese Gruppe zählt als Mittel der Statussicherung eben die Bildung. Für sie stellt Schule den entscheidenden Ort für die Karrierechancen des eigenen Nachwuchses dar. Da dieser im Unterschied zu den Kindern der Oberschicht nicht über hinreichend finanzielles Kapital verfügt, ist der schulische Erfolg zum Ausgleich der materiellen Ressourcenschwäche unabdingbar auch und gerade für die Distinktion gegenüber dem „Unten“.

Auch deshalb können die Abgehängten der Chancen- und Bildungsgesellschaft mit dem Begriff der „Chance“ nicht viel anfangen; Begeisterung löst er keine aus. Auf die Formel „Chance durch Bildung“ reagieren sie gar wütend. Denn Bildung war schließlich der Selektionshebel, der sie in die Chancenlosigkeit hineinsortiert hatte.

Bildung bedeutet für sie daher das Erlebnis des Scheiterns, des Nichtmithaltenkönnens, der Fremdbestimmung durch andere, die mehr gelesen haben, besser reden können, gebildeter auftreten. Für sie heißt die Konzentration staatlicher Anstrengungen auf Bildung statt soziale Transfers die Verfestigung von sozialer Marginalität. Ganz illusionslos sehen sie, dass es für sie, deren Kindheit und Schulzeit vorbei ist, keine überzeugende Idee für ein sozial gesichertes und respektables Leben gibt.

Freie Bahn dem Tüchtigen

Nicht zuletzt auch deshalb werden die individuellen Aufsteiger aus dem früheren sozialdemokratischen Milieu seit einigen Jahren von dem zurückgebliebenen „Unten“ in den Arbeiter- und Arbeitslosenvierteln misstrauisch betrachtet. Der Aufsteiger wird zur Personifikation der Hohlheit aller ursprünglichen Postulate von Solidarität und kollektiver Emanzipation.

Der individuelle Aufsteiger pflegt seinerseits deutlich zu machen, dass er seine Emanzipation nicht als Resultat kollektiven Bemühens, sondern als Ergebnis der eigenen Willenskräfte ansieht – Exkanzler Schröder ist dafür ein prominentes Beispiel. Und er neigt dazu, seine spezifische Lebenserfahrung zum gesellschaftlichen Rezept schlechthin zu verallgemeinern: Erfolg gebührt nur dem Tüchtigen. Bleibt der Erfolg aus, hat es an hinreichender Tüchtigkeit gemangelt.

Kurz: Die auf Bildung fixierte Chancengesellschaft öffnet nicht (zumindest nicht allein) Perspektiven nach oben, sondern errichtet zugleich Mauern und Grenzen gegen rivalisierende Begehrlichkeiten von unten (und Fremden). Der eigene ursprüngliche Anspruch wird so verzehrt. Aber dergleichen Verzehrungsprozesse spielen sich historisch regelmäßig ab, wenn zuvor dynamische Klassen oder Schichten im Aufstieg Positionseinbußen fürchten müssen. Dann werden politische Emanzipationsgeschichten zu konservativen Erhaltungsmärchen umgeschrieben.

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